00 | Prolog

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Es ist ein kühler Herbstabend, als das Mädchen aus dem Siegerdorf den Kompass findet. Er liegt auf den hölzernen Dielen vor der dunkelgrünen Haustür, unberührt, ungesehen und doch direkt vor ihren Füßen.

Sie weiß nicht, warum sie ihn aufhebt. Sie weiß es wirklich nicht. Sie weiß nur, dass sie es nicht tun sollte. Was auch immer die vergilbten Ziffern, das abgeblätterte Gold und der Schließmechanismus des Kompasses zu bedeuten haben, sie hat im Gefühl, dass es nicht für ihre Augen bestimmt ist - sondern für die der Siegerin. Doch sie ist zu neugierig. Das war sie schon immer. Eine nervige Angewohnheit, so sagen es zumindest immer ihre Geschwister. Ein Schmunzeln huscht über die Lippen des Mädchens.

Immer wieder klappt sie den Kompassdeckel auf und zu. Bestimmt zwanzig Mal hat sie den Schließmechanismus betätigt, ehe ihr die eingeritzten Koordinaten auf der Innenseite aufgefallen sind.

Noch am selben Abend steht sie vor dem Ort. Vielleicht ist es einer, der garnichts bedeutet. Vielleicht ist es aber auch ein Zeichen.

Das Mädchen hat sich die Rebellion in Distrikt vier anders vorgestellt. Doch die heruntergekommenen Bootsschuppen inmitten den Ausläufern der Stadt, die sich beinahe jeden Abend mit den unterschiedlichsten Bewohnern füllen, haben schnell ihr Herz gewonnen.

Jedes Mal, wenn sich die Gruppe trifft, hört man den kühlen Herbstwind durch die alten Holzdielen pfeifen. Jedes Mal scheint die Luft vor Spannung zu knistern und das Mädchen hängt an den Lippen der Erwachsenen. Jedes Mal sitzt rund um einen kleinen Tisch die bunteste Ansammlung an Menschen, die sie je in Distrikt vier gesehen hat. Jedes Mal, wenn ihre Geschwister sorglos in den Gassen des Hafens mit anderen Kindern spielen, trifft sich das Mädchen mit den Rebellen.

Und mit der Zeit lernt sie diese kennen. Die Bäckerin, von der ihre Mutter öfter mal Brot kauft, einen alten Mann, den sie meint, von der Hafenkontrolle zu kennen und ein paar weitere aus dem Fabrikbezirk. Doch was sie am meisten überrascht, sind die Sieger, die sich ebenfalls gelegentlich unter die Rebellen mischen. Der schöne Liebling des Kapitols, die alte Dame mit dem grauen Haar und selbst die blonde Karrieretributin mit den langen Wimpern. Mit der Zeit werden es immer mehr von ihnen. Jetzt versteht sie auch, warum der Kompass vor der Tür ihres Hauses lag - die Einladung war für ihre Mutter bestimmt, ebenfalls eine Siegerin.

Doch so oft die Erwachsenen sie auch bitten, diese einzuweihen, weigert sich das Mädchen. Sie weiß, wie verletzt sie ist. Sie weiß, welche schmerzhaften und schrecklichen Erinnerungen die Siegerin wieder durchleben müsste, sobald sie das Rebellenversteck beträte. Denn die Leute um sie herum sprechen bloß über ein bevorstehendes Ereignis: die nächsten Hungerspiele.

In den ersten Tagen verspürt das Mädchen noch Hoffnung, die Rebellen würden den entscheidenden Funken zünden können, der ein Lauffeuer in Bewegung setzen könnte. Doch selbst, als sich mit der Zeit immer mehr bekannte Gesichter unter die Gruppe mischen, schwindet deren Hoffnung, sobald sie spüren, dass der Rebellion noch immer die Idee fehlt, die einen Erfolg bringen würde.

Bis jener eisige Wintertag kommt, an dem ihre Mutter wieder einmal von schrecklichen Albträumen und grausamen Erinnerungen geplagt wird und bloß mit starren Blick auf die ersten Schneeflocken blickt. Sie weiß nicht warum, doch es ist das erste Mal, dass das Mädchen nicht wegschaut. Es ist das erste Mal, dass sie die Welle sein möchte, die all die Angst für immer von ihrer Mutter fortspült.

Und noch am selben Abend kehrt sie in das Rebellenversteck zurück, doch zum ersten Mal hat sie ein Gefühl gepackt, das sie nicht benennen kann. Sie wartet geduldig, bis jede Stimme in der Fischerhütte verstummt ist.

Sie weiß, dass ihre folgenden Worte auf Entsetzen stoßen werden. Doch mit der Zeit, dass weiß sie, werden die Rebellen verstehen, dass dieser Schritt der erste in eine richtige Richtung sein wird. Sollten sie ihrem Plan vertrauen, liegt viel Arbeit vor ihnen, um ihn auch wirklich umsetzen zu können.

Sie verspürt Angst, eine ungeheure Angst vor dem, was kommen wird. Doch sie weiß, dass das einzige, dass stärker währt als Angst, Hoffnung ist. Und sie weiß genau, wie sie diese einsetzen wird. Also erhebt die Siegertochter ihre Stimme und sagt:

„Ich möchte in die Hungerspiele ziehen."

Tribute von Panem | Flammendes MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt