Leere, Stille und Dunkelheit.
Sie ist tot.
Und ich schreie nicht. Ich weine nicht. Nicht mal meinen Herzschlag höre ich. Gibt es ihn überhaupt noch? Ich lebe, aber ohne ihn.
Ich bin nur da. Erstarrt, eingefroren, leer.
Ich atme nicht. Ich bewege mich nicht.
Ich bin nur hier. Unsichtbar, unhörbar, still.
Ich denke nicht. Ich spreche nicht.
Ich bin nur dort. Düster, kalt, dunkel.Mit einem Mal wird ein Stimmengewirr um mich herum immer lauter, irgendwo läuft Musik, irgendwo leuchtet ein Licht und irgendwo zerbricht ein Glas. Doch es ist ein unheimliches Zerbrechen, ein lautes Zerbrechen - ein Donnern. Ein Donnern der Kanone. Jinia! Wo ist sie? Ich muss zu ihr, ich muss sie aufhalten! Sie darf nicht gehen!
Ein Rauschen um mich herum wird immer lauter, irgendwo in der Ferne halten Schritte. Schnelle Schritte. Sind es meine eigenen? Renne ich? Dann darf ich nicht stehenbleiben. Wenn ich jetzt innehalte, werden mich meine Beine nie mehr tragen. Ich muss durchhalten. Wo ist Jinia? Wo werde ich sie finden? Die Schritte verlangsamen sich und verklingen schließlich ganz. Und mit einem Mal schlägt mir die Realität wie eine eiskalte Welle ins Gesicht.
Jinia ist tot. Meine Tochter ist tot! Es ist zu spät, ich kann nichts mehr tun. Ich habe sie verloren, für immer. Jinia - mein Kind - Jinia ist tot!
Mit einem Mal höre ich mein Herz wieder schlagen. Hämmern. Donnern. Zu schnell. Zu laut. Bald presse ich mir die Hände auf die Ohren und schreie dagegen an, damit es einfach aufhört, sich immer weiter in mein Bewusstsein zu bohren.
Ich will nach Hause. Zu meiner Familie. Zu Atala. Zu Jinia. Ich spüre den salzigen Geschmack einer Träne auf meinen Lippen. Bald sind es zwei, dann drei - bald ist es ein ganzes Meer. Ein unfassbarer Schmerz bahnt sich meinen Körper hinauf und endet in einem schrillen, langgestrecktem Schrei.
Ich schreie alles aus mir heraus - die Wut, die Verzweiflung und den unaufhörlichen Schmerz über den Verlust meiner Tochter. Ich werde sie nie wieder in meinen Armen halten. Ich werde nie wieder sehen, wie sich das typisch schiefe Lächeln um ihre Lippen bildet. Ich werde nie wieder ihren Namen sagen können, ohne daran zu denken, dass sie nie wieder bei mir sein wird.
Die nächsten Stunden spielen sich wie durch einen düsteren Regenvorhang vor meinen Augen ab. Von allen Seiten vernehme ich Stimmen, Stimmen, die auf mich einreden, die mich irgendwie zu trösten versuchen. Doch nichts davon dringt zu mir durch. Ich weiß nicht, wie lange ich in meinem Zimmer in unserem Stockwerk verweile, die Vorhänge zugezogen und die Tür verschlossen. Minuten? Stunden? Tage?
Ich kauere in völliger Dunkelheit auf meinem Bett und doch sehe ich sie. Immer wieder leuchtet Jinias Gesicht vor meinen Augen auf und dann lässt ein donnernder Schlag der Kanone es in tausende Teile zersplittern.
Ich habe kein Zeitgefühl mehr, daher weiß ich auch nicht, wann es ist, als jemand zaghaft an meine Tür klopft. Vermutlich haben sie das auch schon vorher einhundert Mal, doch ich habe es nicht mitbekommen. Ich starre in die Dunkelheit und bringe kein Wort hervor. Meine Kehle fühlt sich an, als hätte sich ein eisernes Fischernetz für immer um sie geschnürt.
Ich erwarte die Stimme von Saphire oder Jake, die schon zum unzähligsten Mal an diesem Tag mit mir reden zu versuchen. Ich presse meine zittrig kalten Hände auf die Ohren, um die kalten und falschen Worte, die ihre Lippen verlassen, garnicht erst zu hören.
Doch trotz der Fäuste auf den Ohren dringt seine Stimme zu mir durch. Finnick spricht ganz sanft und aus irgendeinem Grund höre ich seine Worte.
„Hey, Librae ... mir ist klar, dass du da drin bist. Vielleicht hörst du mich trotzdem nicht, aber ich möchte es wenigstens versuchen." Er nimmt einen tiefen Atemzug, um das Zittern in seiner Stimme unter Kontrolle zu bekommen - doch es bleibt.
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Tribute von Panem | Flammendes Meer
FanfictionDie Hungerspiele zu gewinnen ist erst der Anfang. Mehr als zwanzig Jahre nach ihrem Sieg führt Librae Olgivy ein behütetes Leben in Distrikt vier. An der Seite ihrer Lebensgefährtin und ihrer Kinder hofft sie, ihre seelischen Wunden heilen zu könn...