Das Zimmer, in das ich gebracht werde, ist ein einziger Gegensatz aus viel Platz und verwinkelter Raumaufteilung, dunklem Holz und fröhlichen Farben, harten Kanten und asymmetrischen Linien. Es gibt alles in zweifacher Ausgabe, zwei Betten, zwei Schränke, zwei Schreibtische, zwei Stühle, zwei Sessel, aber ich bin allein. Ohne auf die Worte meiner Betreuerin zu achten, stelle ich meine Tasche und meinen Koffer ab und weiß dann nicht mehr weiter. Das Klicken der Tür sagt mir, dass Ina oder Eva oder wie auch immer sie heißt gegangen ist. Ich bin allein und reglos. Was tut man, wenn man sein Zimmer in der Psychiatrie bezieht? Vor meinen Augen zieht eine Reihe von Filmausschnitten vorbei, glückliche Menschen, die ihr Hotelzimmer betreten, die Taschen fallen lassen, tief einatmen und zum Fenster gehen, um die Aussicht zu genießen. Mein Blick wandert zu dem kleinen Fenster zwischen den Betten. Ein halbleerer Parkplatz, einige Tannen, die Hauptstraße. In dem Haus gegenüber tritt gerade eine Frau ans Fenster, öffnet es und schüttelt etwas aus, das wie eine Tischdecke aussieht. Ich kann mich plötzlich wieder bewegen, mache einige, zögernde Schritte auf das Fenster zu, bis ich die Hände heben und das kalte Glas berühren kann. Mein Atem malt Wölkchen an die Scheibe und ich will das Fenster öffnen und fliegen, einfach fliegen. In den Fenstergriff ist ein Schloss integriert, natürlich. Es ist abgeschlossen, denke ich. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht haben sie es vergessen.
Ich scheue mich, es auszuprobieren und erschrecke vor meinen eigenen Gedanken. Allgemein vor meiner Situation. Im falschen Film sein, diese platte Redewendung schießt mir durch den Kopf und trifft genau den riesigen Knoten in meiner Brust. Ich könnte weinen, aber das hat mich noch nie weitergebracht, also drehe ich mich um, weg von der Frau, die ihr Fenster öffnen kann, wann immer sie es will. Vorher fällt mir der Schriftzug auf dem glänzenden Schild ins Auge, das neben der Frau an der Hauswand hängt. Bestattungsunternehmen.
Mitten in die Stille hinein bricht mein Lachen aus, torkelt durch den Raum und unterstreicht gekonnt die Rolle, die ich hier offensichtlich spiele. Die Rolle der jugendlichen Psychiatriepatientin, die koffeinfreie Getränke aus Plastikbechern trinkt, ihre Nagelschere abgeben muss und nicht selbstständig lüften kann.
Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen ... das hat irgendwer irgendwann geschrieben, Rilke, glaube ich. Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen, spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt. Manchmal denke ich, ich verstehe, was er sagen wollte. Die Erkenntnis blitzt auf und ist wieder verschwunden, schwer greifbar, schwer in Worte zu fassen.
Bevor sie wiederkommen kann, zerre ich meinen Koffer in die Mitte des Zimmers und beginne mit dem Auspacken.
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Dead Girl Walking
Teen FictionAm Tag meiner Entlassung liegt Schnee. Ich setze einen Fuß vor den anderen, so bewusst wie noch nie zuvor in meinem Leben, und überquere die Schwelle mit einem einzigen Schritt. Tür zu, Augen auf, da bin ich. ... Sofie wird nach einer Überdosis in d...