Die Kinderstation kommt mir vor wie ein bonbonfarbener Zirkus und ich bin mittendrin. Alle versuchen, nett zu mir zu sein, aber in Wahrheit mache ich ihnen Angst. Ich spüre ihre Vorsicht, ihre Abneigung und ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. Zwischen all den Kindern mit ihren großen Augen, ihren Verbänden und Gipsbeinen und Ausschlägen komme ich mir selber vor wie ein Eindringling, der die Luft vergiftet und vor negativer Energie geradezu sprüht. Ich lasse mich nicht mit ein paar Luftballons und glitzernden Aufklebern aufmuntern und schäme mich dafür, weil ich nicht diejenige sein will, die Probleme macht, die schlecht Gelaunte, die einfach nicht lächeln will. Ich gebe mein Bestes, bin höflich, rufe nie nach der Schwester, versuche es aussehen zu lassen, als hätte ich gegessen und lüge, wenn man mich fragt, wie es mir geht.
Ich kann nicht fassen, dass es immer noch mein erster Tag ist, ich habe meine Klamotten bekommen, Bücher, mein Skizzenbuch, mein Tagebuch und mein Handy. Mein Handy, das ich nicht anrühren kann, noch nicht. Es ist Donnerstag, bis Montag wird sich vielleicht niemand Sorgen machen. Im Lehrerzimmer sollte Bescheid gegeben werden, dass ich längerfristig krankgemeldet bin, ich hoffe, dass sich dadurch Fragen vor der Klasse vermeiden lassen. Aber natürlich, irgendwann werden sie kommen, die Fragen. Ich weiß.
Mein Handy vibriert. Ich starre es an, als die Nachricht automatisch geöffnet wird. Nike. Hey, alles klar bei dir, Süße? <3
Meine Finger zittern. Bevor ich mir überlegen kann, was ich antworten soll, beginnt das Handy erneut zu vibrieren, diesmal ist es ein eingehender Anruf von Chrissi. Chrissi, die mal meine beste Freundin war. Chrissi, für die ich alles gegeben habe und am Ende zu viel. Chrissi, von der ich mich fernhalten wollte, eigentlich, weil ich nicht mehr genug Kraft hatte für uns beide.
Aber vielleicht hat sie jetzt Kraft für mich.
Ich stehe auf, stelle mich barfuß auf den Balkon und sauge die Nachtluft ein, richte mich kerzengerade auf, bevor ich das Gespräch annehme.
Zwei, drei Worte, dann die unvermeidliche Frage. Was ist passiert. Und ich, ich muss zum ersten Mal antworten.
„Ich habe ... Tabletten geschluckt", würge ich hervor.
Stille.
Dann: „Sofie, ich brauch dich doch!"
Ich brauch dich doch.
Auf einmal merke ich, wie kalt mir ist. Ich bringe ein paar Sätze zustande, dann lege ich auf, weil ich spüre, dass es kein Zurück mehr gibt. Ich habe es ausgesprochen, ich habe es getan. Das hier ist kein schlechter Traum mehr und der Balkon ist nicht gesichert. Ich drehe mich ruckartig um, kehre in das Zimmer zurück, Lisa ist im Spielzimmer, Gott sei Dank. Mit sehr starren Fingern öffne ich Nikes Nachricht und beginne zu tippen. Als ich fertig bin, habe ich eine Menge leerer Worte aneinander gereiht und am Ende nichts gesagt. Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. Es tut mir leid.
Aber was mir leid tut, kann ich ihr nicht sagen.
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Dead Girl Walking
Teen FictionAm Tag meiner Entlassung liegt Schnee. Ich setze einen Fuß vor den anderen, so bewusst wie noch nie zuvor in meinem Leben, und überquere die Schwelle mit einem einzigen Schritt. Tür zu, Augen auf, da bin ich. ... Sofie wird nach einer Überdosis in d...