Lächeln

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„Guten Mor-gen!"

Der singende Tonfall hätte mich den letzten Nerv gekostet, wenn da noch irgendwo einer gewesen wäre. Als ich nun die Augen öffne, blendet mich trübes Sonnenlicht. Blinzelnd richte ich mich auf und sehe mich mit einer gefährlich motivierten Krankenschwester und einer strahlenden Zwölfjährigen im Bett neben mir konfrontiert, die gerade ihr pinkes Nachthemd über den Verband an ihrem Bauch zieht. Nur zu deutlich kann man ihr die Freude über ihre neue Zimmernachbarin ansehen.

„Hast du gut geschlafen?"

Sprechen. Ich muss sprechen. Hastig öffne ich meine spröden Lippen, suche nach meiner Stimme, befreie mich mit einem kurzen Räuspern von der schrecklichen Taubheit in meiner Brust. „Geht so." Ich will lächeln, aber ich kann nicht.

„Du warst gestern schon arg müde, oder? Bist ja auch ganz schön spät angekommen."

„Hmm."

Die Krankenschwester hat meine Vitalfunktionen überprüft, meinen Blick bemerkt und sich zurückgezogen.

„Ich bin die Lisa, und du?"

„Sofie."

Diesmal schaffe ich es, sie anzulächeln und zum ersten Mal, seit ich hier liege, kommen mir die Tränen. Heftig blinzelnd wende ich den Blick ab, bis ich mich wieder im Griff habe.

„Wieso bist du denn hier?"

Ich starre der Kleinen jetzt direkt in die Augen, ich kann nicht anders. Ihr Lächeln ist so aufrichtig, so unverfälscht fröhlich und neugierig und nicht in tausend Jahren könnte ich es über mich bringen und ihr mit der Wahrheit ihre Lebensfreude vom Gesicht wischen.

„Ähm." Sag was. Irgendwas. Schnell.

„Wurdest du auch operiert?"

Das könnte ich nicht lange aufrecht erhalten, ich schüttle den Kopf. „Nee. Kreislauf."

So oder so ähnlich habe ich das schon öfter gehört und Lisa offenbar auch, denn sie nickt verständnisvoll. „Aah. Geht's dir jetzt besser?"

„Ja. Viel besser." Wie viel man durch ein einfaches Lächeln verstecken kann.

Ich gehe mit Lisa in den Speisesaal, um zu frühstücken, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, je wieder etwas zu essen. Mir ist schlecht und meine Beine zittern, wenn ich gehe, aber zumindest sehen kann ich wieder richtig. Der Speisesaal der Kinderstation ist nicht mehr als ein kleiner, heller Raum mit vielen Fenstern, durch die man auf die große Straße und hinunter auf die Stadt sehen kann. Während ich meine Cornflakes mit Milch beträufle, starre ich hinaus und beobachte, wie ganz normale Menschen in ganz normalen Autos ihren ganz normalen Arbeitsweg zurücklegen. Mir direkt gegenüber hängt eine große Uhr und ein Blick darauf sagt mir, dass der Unterricht längst begonnen hat. In diesem Moment hat es zur dritten Stunde geklingelt.

„Ich hätte jetzt eigentlich Bio", sage ich und Lisa, die ununterbrochen auf mich eingeredet hat, verstummt für den Bruchteil einer Sekunde.

„Ich hab heute eigentlich Matheprobe", plappert sie sofort weiter, „Von hier kann ich meine Schule sehen, schau mal –"

Niemand weiß, was passiert ist. In diesem Moment sitzen sie alle in der Schule, ohne mich, und niemand weiß, wieso. Ich denke an Nike, die jetzt ganz allein in unserer Reihe ist und Bio im Gegensatz zu mir furchtbar findet. Ich denke an meine Biolehrerin, die ich schon oft für ihren unerschütterlichen Optimismus bewundert habe. Und das erste Gefühl, das mich wieder erreicht, ist brennende Scham.

Dead Girl WalkingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt