Prolog

77 10 7
                                    

Tag 1460.

Ich sitze hier immer noch fest.

Und ich hasse es.

***

Mit einem lauten Seufzen klappte ich mein kleines Tagebuch zu und warf es auf das Bett hinter mir. Zuletzt hatte ich dieses Ding vor drei Wochen in die Hand genommen. Ein Wunder, dass das braune, komplett zerknitterte Heft noch eine Bedeutung für mich hatte.

Seit verdammten vier Jahren war ich schon hier. Vier lange Jahre, bestehend aus viel zu vielen langen Tagen.

Wenigstens konnte ich die freie Zeit, die mir zur Verfügung gestellt wurde, mit dem Schreiben nutzen. Ein Wunder, dass sie mir den Stift nicht auch noch weggenommen hatten. Eine Bedrohung für Ihr Wohlergehen waren die Worte, die mir jedes Mal das bisschen Leben heraus saugten.

Himmel, zwar wurde diese komischen Kreatur in meinen Vorstellungen grauenhaft und gefährlich genannt, doch die hier arbeiteten Leute waren kein bisschen besser.

»An was denkt Ihr denn schon wieder, Hoheit?«

Diese Stimme.
Diese gottverdammte Stimme.

Mit geballten Fäusten verfluchte ich mein erkranktes Gehirn. Als hätte der Stress der letzten Wochen nicht gereicht.

Augenverdrehend sah ich zu dem kleinen Zwerg, der grinsend die Augenbrauen hob. Ach wie gerne ich ihm nur dieses Grinsen aus dem Gesicht hauen würde. Doch egal was ich tat, ich kam an ihn nicht ran. Wie auch? Das Ding ist nicht einmal real, sondern einfach nur eine dumme Wahrnehmung meines dummen Gehirns.

Vielleicht hätte meine Kindheit besser sein sollen. Dadurch wäre ich mit hoher Wahrscheinlichkeit normaler.
Tausendprozentig sicher.

»Glaub mir, ganz sicher nicht an dich, Zwerg«, antwortete ich schnaubend. Er dafür kicherte nur und stand mit einem Ruck auf. Ich musste mein Gehirn echt loben. Während andere hier stationierte Patienten eigentlich so gut wie immer menschliche Vorstellungen hatten, konnte ich auf meinen bekloppten Wahnsinn stolz sein. Dieses komische Ding hier vor mir kam mir bis zur Taille, seine Hautfarbe war grüngelb und der kahle Kopf war mit Hörnern ausgestattet. Kurz gesagt war er genau das, was wir als einen "Kobold" bezeichnen würden. Fehlte nur noch sein Topf voll mit Gold.

»Daran habe ich keine Zweifel, Majestät. Ihr habt hier mit Sicherheit viel Wichtigeres zu tun, als Eure Zeit mit mir zu verschwenden«, das Grinsen auf seinem Gesicht wurde breiter.

Wenigstens hatte er Humor.

»Deine Majestät ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuche es ein anderes Mal.«

Er lachte. »Wann wäre das denn?«

»Hm... Wie wärs mit nie wieder in meinem Leben?«

»Ich bin verpflichtet Euch zu beschützen, Hoheit. Leider kann ich Ihnen diese Bitte nicht abnehmen«, ich nahm den Zwerg hier vor mir kein bisschen ernst.

»Beschützen?«, lachte ich nur, doch der abwertende Unterton war unüberhörbar. »Vor was? Vor meinem Bett? Tisch? Oder doch eher vor dem Kissen?«

»Hohe-«

»Ne, jetzt pass mal auf. Wegen dir in meinem Kopf bin ich hier. Verschwinde. Verschwinde einfach, damit ich in Ruhe mein Leben weiterleben kann. Zwerg, die einzigen realen Lebewesen, die ich sehe, sind die Leute hier auf der Station. Und du« mit dem Finger zeigte ich auf ihn, »du bist einfach nur das Ergebnis meines Wahnsinns!«

Schon wieder ein Wutausbruch. Doch ich konnte mich einfach nicht kontrollieren. Die Worte verließen meinen Mund, bevor ich überhaupt davor nachdenken konnte.

Es reichte. Warum war ich hier? Das einzige Problem an mir war, dass ich fast täglich einen komischen Kobold sah, während andere Leute dies nicht taten. Doch warum schloss man mich hier ein? War ich eine Gefahr für die Gesellschaft? Nein. Würde ich mir was wegen der Gestalt in meinem Kopf was antun? Auf keinen Fall.

Na dann, was zum Teufel suchte ich in dieser Anstalt?

Meine sonst immer so frei laufenden Gedanken wurden von der Hand des Zwergs auf meinem Oberarm gestoppt. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte ich ihn an. Er fasste mich an. Ich konnte seine Hand spüren... Oder war das etwa wieder einer meiner Vorstellungen?

Sie war eiskalt. Kälter als der Pfosten hinter mir. Ich konnte die Kälte durch meinen dicken Pullover fühlen!

»Nicht mehr lange. Haltet es noch ein bisschen aus.« Selten zeigte er sein wahres Lächeln. Und genau dieser hier gehörte zu solchen Momenten. Zum ersten Mal nach langer Zeit fühlte ich mich besser. Meine Zusammenbrüche hatten normalerweise immer einen langen Weg vor sich.

»Wie lange?«

Ich konnte mich nicht mehr halten. Meine größte Angst war es, diesen Vorstellungen Glauben zu schenken. Doch hier war ich nun, den logischen Part meines Gehirns komplett abschaltend.

Ich wollte nur etwas Hoffnung. Einfach nur Hoffnung. Dieses eine Gefühl, welches jeder irgendwo in sich trug, genau dieses Gefühl verlor ich vor Jahren. Und nun wollte ich es wiederfinden. Zusammen mit dem Zwerg, den mein Gehirn selbst konstruiert hatte.

Was für ein Schwachsinn.

»Ehm... Wie du sehen kannst ist heute ist Sonnenfinsternis. Du weißt, was das bedeutet«, wechselte ich dann endlich das Thema. Ich musste Distanz zu meinen Vorstellungen haben. Das war, an was meine Ärztin mich tagtäglich erinnerte. Sie hatte Recht. Je näher ich mich zu ihm hingezogen fühlte, desto höher war das Risiko, dass er nie wieder aus meinem Leben verschwinden würde.

»Stimmt. Euer Gedächtnis ist ausgezeichnet«, dieses schon fast sympathisch wirkende Lächeln verließ sein Gesicht nicht. Gut, dass ich mich daran erinnerte. Vor Monaten erzählte er mir, dass die nächste Sonnenfinsternis die sein würde, an dem er mir seinen Namen sagte. Irgendwie war es absurd, dass ich seinen Namen nicht wusste. Es war eigentlich komplett bescheuert.

»Nun sag schon endlich«, ich konnte spüren, wie aufgeregter ich wurde. Seitdem ich ihn kannte, wollte er warum auch immer seinen Namen nie sagen. Wenn die Zeit kommt, meinte er immer. Warum aber genau heute? Vier Jahre lang gab es genug Sonnenfinsternisse, um mir seinen Namen zu verraten.

Komplett in Gedanken versunken starrte er mich an. Sein Blick wirkte mal wieder so allwissend, als wäre viel er mehr als ich und nicht nur ein Teil meines Wahnsinns. Schwachsinn, Zara.

»Jahar, Eure Majestät, Jahar ist mein Name. Und jetzt, entschuldigt mich bitte«, mit einem Blick nach draußen stand er auf einmal auf.

»Es ist endlich Zeit.«

Bevor ich noch fragen konnte, was er damit meinte, fühlte ich, wie sich von Sekunde zu Sekunde meine Augenlider schlossen. Mein Körper wurde schwerer als ein Sack voll Steine und meine Beine verloren auf einmal den Kontakt zum Boden. Was zum-

Es dauerte dann nicht mehr lange, bis ich am Ende das Bewusstsein komplett verlor.

• • • • • ✍︎ • • • • •

Trust & BetrayalWo Geschichten leben. Entdecke jetzt