Verschwendetes Mitgefühl

106 6 0
                                    

Ein kalter Schweißtropfen läuft ihr über die Stirn, als sie eine weitere Kugel mit einer Pinzette aus seinem Körper herauszieht. Inzwischen hat Altena damit aufgehört die kleinen Geschosse die sie entfernt hat zu zählen. Nach der zweiundvierzigsten Kugel ist ihr das wirklich zu blöd geworden. Sie kann die genaue Anzahl ermitteln, falls sie irgendwann einmal damit fertig werden sollte. Ein normaler Mensch, wäre schon nach einem Treffer tot umgefallen. Able ist aber nicht normal. Er hat unzähligen Schüssen standgehalten, als ob es sich dabei um harmlose Plastikkugeln handeln würde. Altena muss wirklich verrückt sein. Statt diesem durchgeknallten Kerl einfach seinem Schicksal zu überlassen, hat sie ihn über zwei Stunden in das nächste Motel gezerrt. Ihre eigene, kleine Wohnung ist einfach zu weit weg Außerdem will sie sich keinen Geisteskranken ins Haus holen. Altena betrachtet ihn kurz. Noch immer macht er keine Anstalten aufzuwachen. Ob er immer noch bewusstlos oder schon am schlafen ist, kann sie nicht sagen. Alleine die Tatsache, dass sie mitten in der Nacht einen Mann durch die Gegend schleift, der fast dreißig Kilo mehr wiegt als sie selbst, niemanden interessiert hat ist schon sehr fraglich. Die Weißblonde hat ohnehin nicht vor besonders viel Zeit mit ihm zu verbringen. Sie wird sämtliche Kugeln aus seinem Körper entfernen, ihn verbinden und dann rausschmeißen. Zumindest ist das der Plan gewesen, bevor er die Treppe heruntergefallen ist. Zu ihrem Leidwesen, hatte das schäbige Motel nur noch ein Einzelzimmer im zweiten Stock frei. So kam es eben dazu, dass ihr auf dem zweiten Treppenabsatz überraschend die Kraft ausgegangen ist und Able einen Freiflug nach unten bekommen hat.

Das bei dem lauten Aufprall absolut niemand aus einem der Zimmer herausgekommen ist, grenzt an ein kleines Wunder. Neben den unzähligen Einschusslöchern, hat Able nun auch noch ein paar Knochenbrüche auszukurieren. Genau aus diesem Grund, hat sie für zehn Tage im Voraus bezahlt. Wenn er also jemals erfahren sollte, auf welche unelegante Art und Weise er in diesem altmodischen Zimmer gelandet ist, wird er Altena garantiert nicht nur einmal töten. Erschöpft wischt sie sich den Schweiß von der Stirn weg. „Ich glaube, das war die letzte...zumindest was die Vorderseite betrifft..." Sie hat ja keine Ahnung, wie viele Kugeln noch in seinem Rücken stecken. Doch ihn jetzt noch zu drehen und diese ebenfalls zu entfernen, ist für sie einfach unmöglich. Altena schaut auf die kleine Uhr, welche auf dem Nachtkasten steht. Sie zeigt bereits halb vier am Morgen an. Die Weißblonde muss dringend ein paar Stunden schlafen. Es graut sie schon vor dem nächsten Tag, denn sie wird von der ganzen Plackerei bestimmt einen richtig fiesen Hexenschuss bekommen. Altena legt über seinen Oberkörper ein Handtuch und deckt ihn schließlich noch zu. Sie schnappt sich ihre Jacke, die sie zu einer Rolle zusammenpresst und diese schließlich als Kopfkissen missbraucht. Total erschöpft und komplett übermüdet, lässt sie sich auf dem Stuhl nieder und legt ihren Kopf auf dem davorstehenden Tisch ab. Bequem ist etwas anderes, doch sie weigert sich mit Able das Bett zu teilen.

In dieser Position zu schlafen ist für sie das schlimmste was ihr je passiert ist. Es dauert auch nicht besonders lange bis Altena zu frösteln beginnt. „...Verflucht nochmal...warum funktioniert die verdammte Heizung nicht? Da ist es wirklich kein Wunder, weshalb das Zimmer so billig war..." Eine halbe Stunde später reicht es ihr. Sie schlüpft in ihre Jacke hinein und rollt sich am Boden zusammen, wo sie ihren linken Unterarm als Kopfstütze benutzt. Wie sehr sie Able darum beneidet in einem warmen Bett zu liegen. Ganz kurz denkt sie darüber nach der Versuchung nicht doch nachzugeben. Doch hat die Weißblonde wirklich keinen Bock darauf im Schlaf von ihm abgemurkst zu werden, sollte er wider erwartend doch aufwachen. Irgendwann macht sich dann doch die Erschöpfung daran, sie zumindest ein paar Stunden lang schlafen zu lassen. Am nächsten Morgen fühlt sich Altena wie von einer Dampfwalze überrollt. Sie hat brutale Kopfschmerzen und sitzt gerade vor dem Fernseher, wo sie sich die klischeehaften Nachrichten ansieht, während sie einen Kaffee trinkt, um wieder klar denken zu können. Nur langsam fängt die Aspirin an zu wirken, die sie sich vor einer halben Stunde eingeschmissen hat. Altena stöhnt einmal frustriert. Sie ist absolut unzufrieden mit ihrer Situation und weiß, dass sie sich diese selbst so ausgesucht hat. Sie ist so von den Nachrichten abgelenkt, dass sie gar nicht bemerkt, wie sich ein graues Augenpaar öffnet. Able ist soeben zu sich gekommen. Er braucht einen Moment um zu realisieren wo er eigentlich ist bevor er sich aufrichtet. Die fremden Stimmen aus dem Fernseher haben ihn zuerst verwirrt. Doch kaum hat er Altena entdeckt, reißt er die Decke von sich, um sich laut brüllend auf sie zu stürzen.

Sofort zuckt sie stark zusammen und schnellt nach oben. Able hat es also noch immer nicht aufgegeben sie töten zu wollen, doch da hat er nicht die Rechnung mit seinem gebrochenen Bein gemacht. Der zerstörte Knochen gibt sofort nach, woraufhin er einknickt und erstmal zu Boden geht. „...Was zur Hölle...?" Er ist es nicht gewöhnt und kennt das überhaupt nicht, dass sein Körper nicht richtig funktioniert. Bereits im nächsten Moment bemerkt er, dass mit seinen Armen auch etwas nicht stimmt. Als er schließlich den Kopf hebt um Altena anzusehen, blickt sie ihn einfach nur sarkastisch an. „Geschieht dir ganz recht. Du bist selber Schuld, wenn du in aller Herrgottsfrühe so einen Radau machst." Able flucht einmal laut und unternimmt einen weiteren Versuch, um aufzustehen. Doch knickt der rechte Arm sofort unter dem Gewicht weg und den linken kann er erst gar nicht bewegen was darauf schließen lässt, dass seine Schulter ausgekugelt ist. Altena hat diese Verletzung gestern Abend nicht bemerkt, weshalb es wohl gerade eben erst bei seinem Sturz passiert sein muss. „Kaum zu glauben, dass du mich gestern noch umbringen wolltest. Wenn ich dich genauer betrachte bist du gerade in der perfekten Position. Also mache ich einfach da weiter, wo ich heute Nacht aufgehört habe." Der Schwarzhaarige fletscht wild die Zähne und akzeptiert nicht was gerade passiert. Altena hingegen schnappt sich eine Schüssel und ihre Pinzette, bevor sie sich einfach auf seinen Hintern setzt. „Runter von mir", faucht er bösartig. „Sei still, sonst klebe ich dir den Mund zu und schnüre dich wie einen Rollbraten zusammen."

Von ihrer gestrigen Angst ist nicht mehr viel übrig geblieben. Das liegt aber auch nur daran, dass er gerade so gefährlich wie ein neugeborenes Lamm ist. Die Weißblonde desinfiziert die Pinzette, bevor sie diese tief in sein wundes Fleisch drückt. Able knurrt einmal bedrohlich auf. Er reißt den Kopf zur Seite und versucht sie zu beißen. „Daneben", sagt sie und will ihn ein bisschen ärgern. Mit einem kräftigem Ruck, zieht sie die Pinzette zurück und hat die in seinem Körper verborgene Kugel herausgeholt. „Also stimmt es wirklich, was man sich so über dich erzählt." Sie legt das Geschoss in den bereitgestellten Behälter hinein. „Mir ist mal zu Ohren gekommen, dass du absolut keine Schmerzen fühlst. Oder zumindest verdammt gut darin bist sie zu ignorieren." Able widerspricht dieser Aussage nicht, weshalb das wohl so etwas wie eine stille Zustimmung ist. „Na dann brauche ich mich ja nicht zurückzuhalten..." Sie drückt die Pinzette wieder in sein Fleisch, um die nächste Kugel herauszuholen. Natürlich wäre es klüger gewesen, ihn direkt ins nächste Krankenhaus zu bringen, allerdings kann sich Altena schon denken, was man dort mit ihm gemacht hätte. Gedemütigt bleibt Able nichts anderes übrig als stillzuhalten und die ganze Prozedur über sich ergehen zu lassen. Er würde niemals zugeben, dass es sich verdammt gut anfühlt, die lästigen Bleigeschosse endlich loszuwerden. Trotz all seinem Hass und dem großen Wunsch, sie umzubringen, kann er sich die folgende Frage einfach nicht verkneifen. „Wieso...hilfst du mir?" Altena zuckt nur kurz mit den Schultern bevor sie ihm antwortet.

„Ich weiß es nicht und hab absolut keine Ahnung, warum ich das tue. Vielleicht aus Mitleid oder aus Dummheit. Wahrscheinlich ist es ein Mix aus beidem." Plötzlich fängt Able an zu lachen. „Du verschwendest dein Mitgefühl. Ich werde dich töten, sobald ich mich wieder bewegen kann. Und das weißt du auch." Altena zieht ihm mit der Pinzette eins über. „Pass auf, was du sagst, sonst liefere ich dich ans FBI aus." Nachdem alle Kugeln entfernt wurden, steht sie wieder auf, um eine Salbe und Verbände zu holen, die sie heute Morgen in der gegenüberliegenden Apotheke besorgt hat. Normalerweise müssten die ganzen Einschusslöcher noch genäht werden, doch seine Selbstheilungskräfte sind wirklich bemerkenswert. „Was ist das?"
„Wundheilsalbe." Able grunzt einmal verächtlich. „Hau bloß ab damit, ich brauche das nicht." Nun reicht es ihr wirklich und sie geht ihre Drohung wahr machen. Altena trennt ein Stück vom Klebeband aus dem Schreibtisch ab und klebt ihm damit den Mund zu. „Jetzt wirst du eine ganze Weile nicht mehr schnattern können." Able glaubt einfach nicht, dass sie das wirklich gemacht hat. Er versucht zu fluchen und will das Klebeband mit seiner Zunge wegbekommen. Doch das alles bringt nichts. Altena weiß jetzt schon, dass sie ihre Frechheiten mit ihrem Leben bezahlen wird. Doch so kann er auch einmal die einmalige Erfahrung machen wie es sich anfühlt, einem anderen hilflos ausgeliefert zu sein. Bevor sie damit beginnt ihn mit der Salbe einzucremen, holt sie noch einen Eimer mit warmen Wasser und einen Lappen, um das getrocknete Blut von seinem Körper zu waschen. Wie seltsam – die roten Linien gehen gar nicht weg.

Erst als sie ihn auf den Rücken gedreht und das Klebeband aus einem weiteren Mitleidsanflug wieder abgezogen hat, bemerkt sie, dass sein gesamter Körper von roten Tätowierungen überzogen ist, die meist okkulte Symbole und grinsende Dämonengesichter zeigen. „Wow....sieht irgendwie cool aus..." Sie lässt sich kurz ablenken und zeichnet mit ihrem Finger eine der kurvenreichen Linien nach. Das nutzt Able einfach schamlos aus und schlingt seine rechte Hand um ihren dünnen Schwanenhals. Doch aufgrund seines gebrochenen Unterarmes, bringt er gerade nicht genügend Kraft auf, um ihr ernsthaft gefährlich zu werden. Sie schafft es sich aus seinem Griff zu befreien. „Du hast echt einen an der Waffel", murrt sie und beginnt nun damit seine Wunden mit der Salbe zu versorgen. Zu dem Kontrast des Arzneimittels fällt ihr erst einmal richtig auf, wie dunkel seine Haut wirklich ist. Im Gegensatz zu Able, ist sie richtig blass. Wenn er ein Schokoladenpudding wäre, dann ist sie wohl ein Vanillepudding. Und wenn die beiden sich kreuzen würden, käme garantiert ein Karamellpudding dabei heraus. Was für ein seltsamer Gedanke, der sie belustigt schnaufen lässt. „Was ist so witzig?", grollt er. „Gar nichts", pfeift sie fröhlich und kümmert sich weiter darum, seine Wunden zu versorgen.

Allein mit einem MonsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt