Fressen und gefressen werden

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Es hat eine halbe Ewigkeit gedauert, bis Altena sämtliche Wunden von Able behandelt hat. Mittendrin ist ihr die Salbe ausgegangen, weshalb sie nochmals in die Apotheke musste, um für Nachschub zu sorgen. Sie hat seinen halben Körper mit Mullbinden bedeckt und ihn danach wieder mühselig ins Bett zurückgeschleppt. Lange wird sie sich vor einem Hexenschuss nicht mehr drücken können. „Hmpf...du scheinst dich ja bestens mit medizinischer Versorgung auszukennen", brummt Able schlecht gelaunt. „Natürlich tu ich das, immerhin bin ich gelernte Krankenschwester. Was erwartest du also?" Sie hat sich immer mit Leib und Seele um kranke oder verletzte Menschen gekümmert. Leider sorgt ihr angeborenes Helfersyndrom dafür, dass sie gerade dabei ist einen verrückten Psychopathen gesund zu pflegen. „Na dann kann die Krankenschwester mir sicher die Schulter wieder einrenken, nicht wahr?"
„Das kannst du dir abschminken. Sobald die wieder drin ist, dauert es keine drei Sekunden wo du versuchst mir den Hals umzudrehen." Able fängt an schrill zu lachen. „Du bist ja doch nicht so dumm wie ich gedacht habe. Anscheinend habe ich dich doch ein wenig unterschätzt." Angst kann einen Menschen sehr verändern. Altena weiß, dass Able momentan weder Arme noch Beine bewegen kann, daher kann sie auch so frech mit ihm reden. Allerdings wird das kein dauerhafter Zustand bleiben, weshalb sie sich jetzt schon einen Plan überlegt, um ihn rechtzeitig loszuwerden.

„Du kannst dir deine geheuchelten Komplimente wirklich sparen. Sobald die Schusswunden einigermaßen verheilt sind, fliegst du schneller raus, als ein Wanderfalke im Sturzflug den Boden erreicht. Wie du mit deinen Knochenbrüchen klar kommst, ist wahrlich nicht mein Problem." Able starrt sie einmal feindselig an. „Pass auf was du sagst, Püppchen, sonst werde ich bei dir besonders kreativ sein. Falls ich irgendwann wieder aufstehen kann, wirst du dein blaues Wunder erleben." Altena schmunzelt. „Ja...FALLS du wieder aufstehen kannst." Das hätte sie besser nicht sagen sollen, denn Able ist gerade dabei so richtig auszuflippen. „Du elendes Frauenzimmer! Komm her, damit ich dich abmurksen kann!" Er beginnt sie in mehreren, alten Sprachen zu beschimpfen. Allerdings ist Altena davon wenig beeindruckt. Sie schaut ihn einfach nur sarkastisch an und beginnt damit sich gelangweilt am Ohr zu kratzen. „Sag bescheid, wenn du fertig bist. Ich habe ja echt keine Ahnung was eigentlich dein Problem ist und woher dein unbändiger Hass auf Menschen kommt. In diesem Fall werde ich dir erstmal etwas Freiraum lassen, damit du dich austoben kannst. Ich hau jetzt ab und gehe mir an der nächsten Fressbude eine Pizza holen." Ohne ein weiteres Wort zu sagen zieht sie sich ihre Schuhe und ihre Jacke an. Sie ignoriert ihn sogar, als er ihr wütend hinterher brüllt und ihr befiehlt gefälligst hier zu bleiben. Altena schließt die Tür hinter sich und stöhnt einmal frustriert. Sie hat extremes Glück gehabt, dass ihr Portmonee in ihrer fest verschlossenen Jackentasche war. Bei ihrer Flucht hat sie ihre Handtasche verloren, in der nicht nur ihr Handy, sondern auch ihr Haus und ihr Autoschlüssel gewesen sind.

Vielleicht sollte sie demnächst mal zur nächstgelegenen Polizeistation gehen und nachfragen, ob ihre Sachen gefunden und abgegeben wurden. Doch eigentlich geht sie eher davon aus, dass alles in der Tasche höchstwahrscheinlich gestohlen wurde. Es wird sie schon der Schlag treffen, wenn sie wieder nach Hause kommt und man ihr die ganze Bude ausgeräumt hat. Alleine der Gedanke daran macht sie schon fertig, denn ihr Zuhause ist immer ihre heile Welt gewesen. Wenn sie denn nur ein öffentliches Telefon finden würde, dann könnte sie zumindest jemanden aus ihrer Familie kontaktieren. Nun geht sie erst einmal ein anderes Problem lösen. Glücklicherweise ist ganz in der Nähe ein kleines Lebensmittelgeschäft, wo sie etwas Obst und ein paar Milchprodukte kaufen kann. In einer Papiertüte schleppt sie alles mit sich und geht auf dem Rückweg noch bei einer Fressbude vorbei, um sich die erwähnte Pizza zu holen. Eine schöne große und mit extra viel Käse darauf. Am liebsten hätte sie diese unterwegs schon angeknabbert, doch mit zwei vollbeladenen Händen könnte das doch etwas schwierig werden. Man sieht Altena ihre schlechte Laune richtig an, doch als sie in das Motelzimmer zurückkommt, scheint sich Able etwas beruhigt zu haben. Doch der Schein trügt, denn kaum hat sie einen Fuß in das Zimmer gesetzt, macht er direkt da weiter, wo er aufgehört hat. „Oh mein Gott...ich hätte dich doch verrecken lassen sollen. Danach wäre ich in die Kirche gegangen, um es zu beichten." Gerade bereut sie es wirklich zutiefst, dass sie ihm geholfen hat. Richtig müde geworden, legt sie die eingekauften Sachen auf dem Tisch ab. So ein Mist – sie hätte sich einen Kaffee mitnehmen sollen.

Vielleicht sollte sie einfach nochmal losgehen und sich einen holen, dann muss sie Able auch weniger ertragen. Doch vorher will sie erstmal etwas essen, bevor die Pizza noch kalt wird. Ein göttlicher Geruch füllt den Raum, als sie den Deckel der Pappschachtel öffnet. Es riecht so gut, dass es sogar Able die Sprache verschlagen hat. Nie im Leben würde er zugeben, dass er davon auch etwas abhaben will. Egal was dieses Essen auch sein mag, es bringt seinen Magen zum knurren. Altena will gerade in das erste Stück beißen, als sie dieses verräterische Hungergeräusch hört. Mitten in der Bewegung hält sie inne. Sie hat das ganz genau gehört. „Was glotzt du so blöd?" Sie lässt ihre Hand sinken. Gerade muss sie wieder gegen ihr Helfersyndrom ankämpfen. Normalerweise teilt sie Pizza nicht gerne, doch ist sie auf keinen Fall egoistisch. „Es ist nichts..." Sie versucht ihn diesmal wirklich zu ignorieren und beißt genüsslich in ihre Pizza hinein. Doch nur einen Augenblick später bemerkt sie, dass sie aufgrund seines brennenden Blickes einfach nicht schmeckt. „Ist ja schon gut", stöhnt sie. Altena holt einen Teller und schneidet die Pizza in acht Stücke, von denen sie erst einmal zwei auf das Porzellangeschirr legt. Mit äußerster Vorsicht nähert sie sich ihm. Sie wird von Able wie von einem Raubtier beobachtet. Er begutachtet jeden Schritt den sie macht und sie wird von ihm regelrecht mit den Augen ausgezogen. Mit etwas Abstand zu ihm, setzt sie sich auf den Bettrand, nimmt eines der Stücke in die Hand und hält es ihm hin. „Glaub ja nicht, dass ich dir vertraue, aber du hast mich wie ein verhungertes Gespenst angeschaut." Able betrachtet sie hasserfüllt, schielt aber mehrmals zu dem Essen herüber.

„Wenn du es nicht willst, bleibt mehr für mich übrig. Natürlich kann ich dir später auch einen Milchreis oder einen..." In dem Moment schnappt er zu. Altena hat nicht einmal ihren Satz beenden können, da hat er mit einem Bissen die Hälfte des Pizzastücks verschlungen und ihr dabei noch fast den Finger mit abgebissen. „Able, hast du gerade versucht mir den Finger abzubeißen?" Es ist das erste mal, dass sie ihn beim Namen nennt. „Ja, das habe ich. Und wenn du nicht so ein flinkes, kleines Ferkelchen wärst, hättest du jetzt einen weniger." Absolut sprachlos, schaut sie sich das Pizzastück an. Wie zum Teufel hat er das gemacht? So einen Gebissabdruck hat sie noch nie gesehen. Fast so, als würde er Reißzähne haben. „Wie lang willst du noch so dumm in der Gegend herumglotzen? Kommt da noch was, oder war das schon alles?" Wenn es für Unhöflichkeit einen Preis gäbe, würde er ihn garantiert gewinnen. Allerdings ist es ihr zu gefährlich ihn direkt aus der Hand zu füttern wenn er so bissig ist, also holt sie eine Grillzange aus dem Schrank, um diese sogleich zu zweckentfremden. „Alter, jetzt schling doch nicht so. Du wirst davon nur Bauchschmerzen bekommen." Able schaut sie kurz an, als ob sie etwas lustiges gesagt hat. Dann macht er sich wieder daran die Pizza zu zerfetzen. „Dir ist echt nicht mehr zu helfen..." Er verlangt nach mehr, nachdem die beiden Stücke von ihm verschlungen wurden. So viel zum Thema SIE geht sich eine Pizza holen. Wenn das so weitergeht wird sie noch leer ausgehen, weil er ihr vorher alles weggefressen hat.

Ungeduldig wartet er darauf, dass sie mit Nachschub zurückkommt. Ihm geht das aber nicht schnell genug. Als sie kurz vor dem Bett angekommen ist und sich gerade setzen will, stößt er sich mit seinem gesunden Bein ab, nutzt den Schwung, um sich regelrecht auf sie zu stürzen. Altena entweicht ein heißer Schrei, bevor sie unsanft zu Boden fällt. Able fällt auf sie drauf und begräbt sie erneut unter sich. Allerdings startet er einen weiteren Mordversuch und will ihr brutal in den Hals beißen, um die Hauptschlagader zu durchtrennen. Altena schreit erneut auf. Sie geht in Abwehrposition. Der Schwarzhaarige dröhnt verärgert, da er nicht in ihren Hals, sondern in die Grillzange gebissen hat. Sie hat aus Reflex gehandelt und das hat ihr wahrscheinlich gerade das Leben gerettet. Erneut schießt die Panik in ihre Augen, als er anfängt sich gegen das Kochutensil zu wehren. „Du hast wirklich nicht mehr alle Latten am Zaun", beschimpft sie ihn und drückt ihm mit beiden Händen die Zange weiter in den Mund hinein. Lange wird sie sich nicht gegen ihn zur Wehr setzen können, immerhin ist er fast zwei Meter groß und um ein vielfaches stärker als sie. Verdammt – gleich geht ihr die Kraft aus. Plötzlich beißt er fest in die Zange, um ihr diese regelrecht aus den Händen zu reißen. Er spuckt sie neben sich wieder aus und sie weiß, dass es jetzt mit ihr vorbei ist. Sie ist ihm schutzlos ausgeliefert. Jedoch hat er völlig unerwartet das Interesse an ihr verloren, weshalb er sich mit seinem gebrochenen Arm schwerfällig nach vorne zieht, um sich gierig die verbliebenen Pizzastücke hineinzuschlingen. Altena stöhnt einmal schwer, da sie regelrecht seinen Bauch im Gesicht kleben hat. Sie muss den Kopf zur Seite drehen, damit sie überhaupt Luft bekommt.

„Oh mein...geh runter von mir...ich kann nicht atmen..." Able lacht einmal gehässig.
„Sehr gut, dann bleibe ich jetzt solange liegen, bis du endlich dein kümmerliches Leben ausgehaucht hast." Altena fängt an nach Luft zu schnappen. Er liegt gerade so ungünstig auf ihr, dass sein Becken ihren Brustkorb zusammendrückt und somit ihre Atmung behindert. „...Ich meins ernst...", röchelt sie. „...Geh runter von mir...bitte...." Able schmunzelt. Es gefällt ihm sehr, dass sie so schön bei ihm bettelt. „...Nur wenn du mir wieder meine Schulter einrenkst." Eigentlich wollte sie das wirklich nicht tun, doch aufgrund dieser äußerst unangenehmen Situation hat sie leider keine andere Wahl. „...Okay...du hast...gewonnen..." Able wirkt zufrieden. Kaum hat sie das ausgesprochen, stemmt er sich mit seinem gesunden Bein am Boden ab und rollt von ihr herunter. „Und wehe du verarscht mich, dann wird es beim nächsten mal noch schlimmer. Das verspreche ich dir." Altena schießt nach oben, um erst einmal kräftig zu husten. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich an ihr Versprechen zu halten. Ihm die Schulter wieder einzurenken ist immer noch die bessere Lösung, als einen grausamen und äußerst schmerzhaften Erstickungstod zu erleiden. Sie muss sich erst einmal richtig aushusten und wieder richtig zu Atem kommen, bevor sie ihn wieder ins Bett verfrachten kann. „Wird das heute noch was, oder muss ich mich nochmal auf dich werfen?" Die Weißblonde hat ein ungutes Gefühl dabei. Sie tastet mit den Fingern seine Schulter ab um die Stelle zu finden, wo die Kugel aus der Pfanne herausgerutscht ist. Als sie diese gefunden hat, drückt sie das Gelenk in eine natürliche Position zurück. Altena weicht sofort zurück, doch zu ihrem Erstaunen, greift Able sie nicht an.

Er dreht seine Schulter nur einmal und überprüft, ob sie auch Wort gehalten hat. „Geht doch", spuckt er. „Fühlt sich schon viel besser an." Ein normaler Mensch hätte bei diesem Vorgang geschrien vor Schmerz, doch er hat nicht einmal ansatzweise das Gesicht verzogen. Eine Sache ist ihr soeben gerade klar geworden. Able besitzt entweder Verstand, den sie nicht versteht, oder ist komplett verrückt. So schnell sie nur kann, schnappt sie sich ihre Schuhe und ihre Jacke erneut. „Wo willst du hin?" Total genervt und noch immer verängstigt, schlüpft sie in beides hinein. „Mir eine neue Pizza holen und dabei gleich ein öffentliches Telefon suchen, um dich in die nächstgelegene Klapsmühle einweisen zu lassen." Able fletscht wild die Zähne. Es passt ihm nicht, dass sie schon wieder abhauen will. „Schau nicht so dumm aus der Wäsche. Ich hab immer noch Hunger und du hast mir schließlich die ganze Pizza weggefressen." Wütend stampft sie aus dem Motelzimmer heraus. So sind eben einmal die Regeln dieser Welt. Fressen und gefressen werden. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst ist, dann ist Altena mehr als nur froh, dass er die Pizza und nicht sie gefressen hat.


Allein mit einem MonsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt