Kapitel 79

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„Na dann los, sonst ist der Flieger weg." Leonie zerrte mich hoch. „Wir räumen hier zusammen. Guten Flug!", rief uns Linus hinterher, während Leonie mich mit sich zerrte. Hinter uns explodierten die ersten Feuerwerkskörper des großen Feuerwerks und erleuchteten den Himmel über uns in bunten Farben. Also musste es gerade Mitternacht sein. Leonie zog mich durch die vielen Menschen, die hier überall standen und zum Himmel starrten. Ich folgte ihr einfach. „Was machst du?" Ich schaute sie irritiert an, wie sie wild herumzappelte. „Ein Taxi stoppen. Was sonst?" Taxi? In meinem Kopf begann sich ein Rechner in Gang zu setzen. Mist, Taxi, Flug. Das passte alles gar nicht ins Budget. „Aber wir können doch..." „Stimmt, du hast recht. Los komm!" Wieder zerrte sie mich weiter. Kurze Zeit später standen wir an einem menschenleeren Bahnhof. Klar, alle Leute waren ja beim Feuerwerk. Manchmal musste man aber auch Glück haben, denn unmittelbar fuhr ein ebenso leerer Zug ein. Wir ließen uns auf die Sitze plumpsen. „Ich habe überhaupt kein Gepäck mit." Alles was ich dabei hatte war meine Portemonnaie und mein Handy. „Brauchst du doch auch nicht. Oder hast du nichts mehr zu Hause?" Doch da hatte ich noch genug bei meinen Eltern. „Was kostet der Flug überhaupt?" Der war bestimmt nicht billig so kurzfristig. „Nichts für dich. Großzügiges Geschenk der Familie Großkreutz für den neuen Schreihals", zwinkerte mir Leonie zu. Nee, das konnte ich so nicht annehmen, das war.... Sie arbeitet doch auch hart für ihr Geld in der Bar. Ud da verdiente sie mit Sicherheit weniger als ich in der Agentur und bei Constantin. Ich wusste doch, dass sie auch jeden Cent brauchte, nachdem meine liebe Cousine Gina sie einfach so mit den Kosten für die Wohnung hatte sitzen lassen. Und sie hatte ja auch ihre Pläne für ihre weitere Reise. Da konnte ich das nicht zulassen. Das riss garantiert noch ein viel größeres Loch in ihr Budget als in meins. Außerdem brachte es ihren Zeitplan dann noch mehr durcheinander, wenn ihr das Geld fehlte.  „Du hast es gut. In ein paar Stunden bist du im Pott. Ich war da schon viel zu lange nicht mehr." Sie schaute deprimiert aus dem Zugfenster auf die an uns vorbeifliegende Dunkelheit. Ihr Blick wandte sich wieder mir zu. „Und vergiss nicht im Flughafenshop noch ein Plüschtier zu kaufen. Und für deine Schwester noch was zu naschen. Ein paar Extrakalorien können nach dem Kraftakt bestimmt nicht schaden." Da hatte ich noch gar nicht dran gedacht. Ich würde Lucy auf alle Fälle noch etwas Turrón mitnehmen. Sie liebte das Nougat mit den Mandelstücken darin. Also nicht, dass meine Schwester nicht Essen sowieso liebte. Der Zug stoppte und wir liefen das Stück zum Flughafen Terminal, an dem mein Flug ging. „Du musst noch zum Schalter dir das Ticket ausdrucken. Ich mache mich dann mal wieder auf den Weg. Mein Bruder wartet am Flughafen dann auf dich. Du erkennst ihn an dem typischen guten Aussehen der Familie Großkreutz. Und grüß mir den Pott." Leonie drehte sich schlagartig um, um wieder Richtung Bahn zu verschwinden.  „Warte, ich checke nur kurz ein und dann musst du mir noch bei dem Plüschtier helfen." „War ja klar, dass du Macho es nicht schaffst, ein Spielzeug auszusuchen." Der leichte Anflug von einem Lächeln tauchte in ihrem Gesicht auf, nachdem sie die ganze Zeit eher bedrückt gewirkt hatte. „Okay, ich warte hier." Mir kam ein spontaner Einfall. „Nee, komm mal mit an den Schalter. Nicht, das du abhaust." „Ja, genau", sie schüttelte grinsend den Kopf. „Guten Abend", begrüßte uns die Dame am Schalter. „Ich möchte einchecken." Ich reichte ihr meinen Ausweis. „Wäre eigentlich noch ein weiterer Platz in der Maschine frei?" Die Dame begann zu lächeln. „Da haben Sie absolut Glück. Die Maschine ist heute wegen des Feiertags morgen so gut wie leer." „Perfekt, dann möchte ich noch einen dazu buchen." Sofort fing die Dame an auf ihrer Tastatur herumzutippen. „Normalerweise müssten Sie dafür an den Schalter unserer Gesellschaft, der ist aber momentan nicht besetzt, so dass ich auch Zugriff habe." Manchmal musste man auch Glück haben. Ich stupste Leonie an. „Los Ausweis, Großkreutz!" Leonie schaute mich mit großen Augen an. „Oder bist du nicht so spontan?", forderte ich sie heraus.  „Ich und nicht spontan? Spontan ist mein zweiter Vorname." Ihre Augen hatten zu leuchten begonnen. „Aber du hast echt einen Vollknall, Goretzka. Dat is doch viel zu teuer. Dat kann ich mir nicht leisten." „Nee, musst du ja auch nicht. Das Ticket kaufe ja auch ich. Dann sind wir quitt." Eigentlich konnte ich es mir auch nicht leisten, aber irgendwie überrollte mich gerade die Vorfreude meine Familie zu sehen und ließ mich nicht weiter darüber nachdenken, was ging und was nicht.
Eine Viertelstunde später waren wir sowohl eingecheckt als auch durch die Sicherheitskontrolle durch und schlenderten wie zwei abgerissene Strandbesucher in unseren Flipflops, den kurzen Hosen und ausgeleierten T-Shirts durch den fast leeren Flughafen. Glücklicherweise hatte wenigstens der Dutyfree um die Zeit offen. Ich schaute zu der Tüte in meiner Hand. Darin schlummerten zwei Stofftiere - eins für Paolo und natürlich auch eins für meinen kleinen Flipper - für Dodo hatte ich das Turrón und für Andi ein paar Zigarren gekauft. Er rauchte zwar nicht, aber in den ganzen Filmen gab es für die frischgebackenen Väter auch immer eine Zigarre. Die konnte er dann zusammen mit dem frischgebackenen Opa und Onkel paffen. Für meine Mom hatte ich noch eine Flasche Sekt gekauft. Das war mein einziges Gepäck. So war ich noch nie geflogen. Genaugenommen hatte ich auch noch nie etwas so spontan gemacht. Das war echt verrückt. Aber irgendwie fühlte es sich richtig cool an. Aus dem Lautsprecher ertönte eine Stimme, die unseren Flug aufrief. „Na dann los, Goretzka! Der Pott wartet auf uns." Leonie drehte sich total aufgedreht im Kreis, ehe sie nach meiner Hand griff und mich mit sich zum Gate zerrte. Ich musste grinsen. Ja, der Pott wartet auf uns. Und auf mich wartete der kleine Paolo. Wahnsinn. Ich freute mich so auf meine Familie. Die würden garantiert aus allen Wolken fallen, wenn ich bei ihnen auftauchte

Schuss und Treffer- Spielplanänderung - Teil 10  ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt