Als ich diese Erinnerungen verfolgte, fragte ich mich, wie viele aus dem Rudel wohl überlebt hatten. Damals hatte ich versucht, Spuren in der aufgeweichten Erde zu finden, und hatte so herausgefunden, dass sie das Territorium verlassen haben mussten. Den Kopf in die Höhe zu heben und zu heulen wagte ich nicht. Mein Ruf wäre etliche Kilometer weit zu hören gewesen und hätte die Streuner bloß angelockt.
Regen prasselte nieder, Blitze zuckten am zementgrauen Himmel auf und für jene Sekunden war es taghell. Über mir ließ die Sichel des Mondes ihren Lichtschein fallen, der sich in den Pfützen des Weges fing. Als ich auf die Wasserfläche sah, blickte mir jemand entgegen. Es war ein schlankes Mädchen mit vor Erschöpfung eingefallenen Wangenknochen und kastanienbraunen Haaren. Ich sah in ihre grünen Augen, die mir merkwürdig fremd erschienen. Mit einem Mal wurde mir klar, wie sehr ich mich verändert hatte, seit ich abgeschieden vom Rudel lebte. Ich war nun nicht mehr dieselbe Alexa wie vor drei Monaten und ich wusste nicht so recht ob ich stolz oder besorgt sein sollte.
Als ich durch den Torbogen schritt, der in die Stadt führte, erkannte ich nur schemenhafte Gestalten, nicht mehr als vorbeiziehende Schatten. Meine Pupillen weiteten sich, sodass mehr Licht auf meine Netzhaut traf und sich meine Sicht verschärfte. Jetzt konnte ich jede noch so kleine Bewegung viel genauer wahrnehmen. Die dunklen Flecken an den Fassaden der Häuser, die Nester der Schwalben in den Dachrinnen, sowie eine hellgraue Maus, die aus einem Loch in der Wand einige Meter vor mir geschlüpft kam.
Einige Kinder liefen ausgelassen im Regen an mir vorbei. Angst, von ihnen als Werwölfin erkannt zu werden, musste ich nicht haben, denn wir sahen in menschlicher Gestalt genauso aus wie sie. Bloß andere Werwölfe erkannten einander am Geruch oder anhand der schnellen Reflexe. Nahezu kein Mensch wussten über unsere Existenz Bescheid, für die meisten waren wir ein Mythos. Und das war gut so.
Belustigt verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln als ein junger Mann in etwa fünfzig Meter Entfernung in eine tiefe Pfütze getreten war und auf einem Bein herumtänzelte, um das Wasser abzuschütteln. Während ich ihn beobachtete, konzentrierte ich mich auf das, was in unserer Sprache „Wolfsblick" genannt wurde.
Damit war es Werwölfen möglich, nicht bloß eine Person aus weiter Entfernung zu erspähen oder zu erkennen, was sie trug oder bei sich hatte. Mit meinen scharfen Sinnen konnte ich jeden einzelnen Wassertropfen betrachten, der durch die Luft flog, seine dunklen, vom Wind zerzausten Haare und den rauen Stoff seiner nassen Lederjacke, deren rechter Ärmel etwas verrutscht war und ein Tattoo am Unterarm freigab.
Es war nicht mehr als der Hauch eines Gefühls, der mich beschlich, doch etwas an diesem Mann war anders als bei den restlichen Bewohnern der Stadt. Auf seinem Arm war der Abdruck einer Wolfspfote, gezeichnet in dunkelgrauer Tinte, sodass man die feinen Schattierungen gut auf der Haut erkennen konnte.
Unwillkürlich erschauderte ich, da mein erster Gedanke war, dass es sich um einen anderen Werwolf handeln könnte. Es gab viele meiner Art, die es vorzogen, unter den Menschen zu leben, unerkannt und immer auf der Hut vor neugierigen Blicken. Falls dies einer der besagten Artgenossen war, konnte er einem Rudel angehören, welches hier lebte – was bedeutete, dass ich erneut ein Eindringling war. Ich beobachtete, wie er davon stapfte und entspannte mich wieder.
Früher wäre ich nicht so misstrauisch gewesen, aber nun war es notwendig, um am Leben zu bleiben. Ein Schritt in die falsche Richtung, zu viele Worte, die offenbaren konnten, wer ich war und es könnte sehr schnell riskant werden. Ich sehnte die Vergangenheit herbei, als mein Rudel sich auf gemeinsamen Streifzügen durch das Moor gegenseitig den Rücken gestärkt hatte. Wir waren in Sicherheit gewesen, hatten aufeinander achtgegeben. Nun musste ich selbst wissen, wann ich mich in Gefahr befand und wie ich da wieder herausrauskam.
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Wolves - Silberblut
Fantasy~ Wir sollten keine Angst haben etwas zu riskieren, wenn wir die beschützen wollen, die uns wichtig sind ~ Mein Name ist Alexa Haze und vor drei Monaten war ich noch eine Jägerin in einem der mächtigsten Werwolfsrudel in Shadow Hills. Bis mir in ein...