⸻𝔭𝔯𝔬𝔩𝔬𝔤

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Als ich die rote Tür des VW Golfs zugeschlagen habe, hätte ich nicht gedacht, dass sich mein komplettes Leben in diesem Moment verändern wird.

Dass nichts mehr so wird, wie es einmal war.

Ich drehe mich um, winke ein letztes Mal dem Vater meiner besten Freundin zu, der mich netterweise nach Hause gefahren hat. Dann mache ich auf dem Absatz kehrt und, wie bisher jeden Tag in den letzten 16 Jahren, laufe ich den gepflasterten Weg durch unseren Vorgarten zu unserer Tür.

Gerade will ich mich bücken, um den Ersatzschlüssel aus der Blumenvase, die rechts neben der Tür steht aufzuheben, als mir auffällt, dass etwas anders ist.

Normalerweise ist die Tür verschlossen, ausnahmslos, doch heute ist sie leicht angelehnt. Verwundert darüber runzle ich meine Stirn.

Mit meiner Hand stoße ich gegen die Tür, die sofort aufgeht, und trete seufzend hinein.

Den blauen Rucksack, den ich über meine Schulter getragen habe, lasse ich einfach zu Boden gleiten, als sich mein Blick auf Fußspuren richtet, die den Boden zieren. Sie sind rot. Blutrot.

Scharf ziehe ich die Luft ein, mein Kopf ist leer, ich denke an nichts, als ich langsam den Flur entlang laufe.

Überall im Flur hängen Bilder. Von mir, meinen Eltern, gemeinsame Bilder, welche mit Freunden und Familie.

Bis auf Streitigkeiten, die völlig normal sind, wenn Familien aufeinander treffen, sind wir glücklich.

Ich bin froh, so eine gute Bindung zu meinen Eltern zu haben, ich sehe es bei meinen Freunden in der Schule, dass nicht jeder das Glück einer wirklich glücklichen, funktionierenden Familie hat.

Ein mir unbekannter, unangenehmer Geruch steigt mir in die Nase, während ich das Ende des Flures erreiche.

Ich biege links ab, stehe plötzlich im Wohnzimmer, als ich wie erstarrt stehen bleibe und auf das grausame Szenario vor mir starre.

Ein Schrei entflieht meiner Kehle, geistesgegenwärtig schlage ich mir meine Hand auf den Mund, Tränen sammeln sich in meinen Augen und fließen in Sturzbächen mein Gesicht hinunter, als ich meine beiden entstellten Eltern vor mir auf dem Boden, in ihrer eigenen Blutlache, liegen sehe.

Ich stürze auf sie zu, falle schmerzhaft auf meine Knie, doch dieser Schmerz ist nichts im Gegensatz dazu, den ich gerade innerlich fühle.

Panisch schluchze ich auf, hebe den leblosen und blutleeren Körper meiner Mutter auf meinen Schoß. Wie ein Baby wiege ich meine Mutter hin und her, mein Schluchzen erfüllt das sonst leere Haus.

»Mama... Bitte wach auf«, flehe ich sie an.

Ich streiche ihr eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Ihre leeren Augen starren mich an, das Grauen steht in ihrem Gesicht geschrieben.

Durch meine vielen Tränen und das Blut, das überall an meiner Mutter klebt, erkenne ich nicht, wo sie genau verletzt ist. Doch ich spüre nicht mehr ihre Wärme, die sie sonst ausgestrahlt hat. Ihr Körper ist eiskalt und leicht gräulich.

Ich drehe mich zu meinem Vater um, der neben dem massiven Esstisch auf dem Boden liegt.

Neben seiner Hand liegt der große, silberne Kerzenhalter, als hätte er sich vor einem Eindringling verteidigt.

»Was ist nur passiert?«, hauche ich. Als ich mir meine Tränen aus dem Gesicht wische, spüre ich etwas Nasses an der Hand.

Ich blicke auf meine Hände und erneut schluchze ich auf, als mir auffällt, dass das Blut meiner Mutter an meinen Händen klebt.

Tausende Gedanken schweben durch meinen Kopf, filtrieren meine Gedanken. Ich lasse von dem leblosen Körper meiner Mutter ab.

Sanft nehme ich den Kopf von meiner Mutter und lege ihn vorsichtig auf den weißen Teppich, der mittlerweile mehr rot ist. Mit schwerem Herzen stehe ich auf, sehe an mich hinunter.

Meine ganzen Klamotten sind blutverschmiert, bevor ich weiter nachdenken kann, greife ich zu dem Handy in meiner Po-Tasche.

Mit einer verschwommenen Sicht wähle ich den Notruf. Doch als sich eine fremde Stimme an der anderen Leitung meldet, kriege ich keinen einzigen Ton über meine Lippen.

»Elena White«, ich zucke zusammen, als ich meinen Namen höre. Ich hebe meinen Blick und sehe sofort in zwei kristallblaue Augen, die mich voller Mitleid ansehen.

Ich brauche kein Mitleid.

Die blonde Frau legt eine Hand auf meine Schulter, kalt und emotionslos sehe ich ihr entgegen. Mein Blick fällt auf ihre rot geschminkten Lippen.

Ich sehe, wie sie sich bewegen, doch kein einziges Wort kommt bei mir an. Ich schalte auf Durchzug, während sie mir einen ellenlangen Monolog hält, der wahrscheinlich nur wenige Minuten andauert, sich doch viel länger anfühlt.

»Bist du bereit, deine neue Familie kennenzulernen?« Diese Frage lässt mich meinen Kopf hochreißen.

»Ja.«

Nein.

blood & water - chris evansWo Geschichten leben. Entdecke jetzt