⸻𝔴𝔞𝔥𝔯𝔥𝔢𝔦𝔱

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Dunkelheit. Vollkommene Dunkelheit umgibt mich. Mein Schädel pocht schlimmer als nach einer durchzechten Nacht an meinem 18. Geburtstag, als ich mit meinen Freunden in einem Club war.

Ich kann keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Wie auf Watte schweben meine Gedanken umher, keinen kann ich greifen. Minuten sitze ich einfach auf dieser Art Stuhl, versuche den Geschmack des Tuches, das in meinem Mund gestopft wurde, zu verdrängen.

Warum habe ich ein Tuch in meinem Mund? Warum sitze ich auf einem Stuhl und warum - verdammt nochmal - tun mir meine Handgelenke so weh?

Langsam werden meine Gedanken klarer. Sie strukturieren sich neu und plötzlich habe ich ein genaues Bild vor meinen Augen.

Bilder. Hunderte von Bilder und alle haben mich gezeigt. Bilder, als ich klein war, von meinen ersten Schritten, das erste Mal, als ich gelaufen bin, meine erste Zahnlücke, meinen ersten Schultag. Beinahe von jedem Meilenstein, den ich in meinem Leben erreicht habe.

Doch was mir das Blut in den Adern gefrieren lassen hat, waren nicht diese Bilder. Es waren die Bilder, die ich nicht kannte. Wo ich in meinem alten Kinderzimmer in meiner Pferdebettwäsche geschlafen habe. Bilder von mir, wie ich mich mit meinen Freunden in dem kleinen Café an unserem Stammtisch sitze und lache.

In mir zieht sich alles zusammen, als ich nur daran denke. Mein Sandkastenfreund, derjenige, den ich in den letzten Tagen mein Herz geschenkt habe, der es immer in der Hand hatte...-

Er wollte den Verdacht auf Benedict lenken. Der, der mir helfen wollte. Verdammt, wie konnte ich nur so blind sein? Tränen füllen sich in meinen Augen, obwohl ich mich innerlich tot fühle.

Seit Jahren lässt mich nur eine Frage weiterleben.

Warum?

Warum hast du meine Eltern umgebracht?

Warum hast du mich nach den ganzen Jahren im Supermarkt angesprochen?

Warum hast du mich geküsst, als wäre ich das kostbarste auf der Welt?

Warum?

War es dein perfider Plan? Die Tochter zu küssen, zu ficken, derer Eltern du umgebracht hast? Mit ihrem Herzen Ping Pong zu spielen und es in den Händen zu halten, um zu spüren, wie es langsam aufhört zu schlagen?

»Scheiße«, ein lautes Schluchzen kommt über meine Lippen, wird jedoch immer noch von dem Tuch in meinem Mund gedämpft.

Wie sehr kann man sich in einem Menschen täuschen, wie kann sich der Nachbar, der beste Freund, sich als Freund ausgeben, obwohl er der Mörder ist? Er hat mich in seinen Armen gehalten, mir beruhigend über meine Hand gestrichen und mir süße Worte in mein Ohr geflüstert. Doch das Schlimmste ist, dass ich ihm vertraut habe.

»Wein nicht, Babe«, ertönt eine Stimme vor mir. Schmerzhaft drücke ich meine Augen zusammen, als plötzlich die Helligkeit sich in meine Netzhaut brennt. Wieder verlässt ein Schluchzen meine Kehle. Heiße Tränen rinnen mein Gesicht runter, als ich eine Hand spüre, die über meine Wange wischt, bevor er mir das Tuch aus dem Mund zieht.

»Fass mich nicht an«, zische ich angewidert und öffne meine Augen. Es dauert einen Moment, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnen und ich durch den Tränenschleier klar sehen kann.

Seine blauen Augen blicken tief in meine und noch nie habe ich sie so klar gesehen wie jetzt. Weil das Geheimnis gelüftet ist. Weil ich weiß, wer er wirklich ist.

Hass überkommt mich und ein weiteres Mal versuche ich verzweifelt an den Kabelbinder zu rütteln, doch das  Plastik gräbt sich nur tiefer in mein Fleisch. Der Schmerz bleibt aus, der Verrat überwiegt und lässt mich nichts anderes fühlen.

blood & water - chris evansWo Geschichten leben. Entdecke jetzt