Kapitel 46

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Es hat gut getan mit meinem Vater über die ganze Situation mit Will zu sprechen. Allgemein ist es schön, hier zu sein und diese vertrauten Gespräche mit ihm führen zu können. Das habe ich in den vergangenen Monaten schrecklich vermisst und für die Zukunft nehme ich mir fest vor, ihn wieder öfter anzurufen, wenn wir zurück in New York sind. Aber bis dahin werde ich die gemeinsame Zeit mit meinem Vater hier in Italien genießen.

Morgen ist bereits sein Geburtstag und unsere Großeltern, sowie meine Tante, sind bereits dabei alles für die Feier vorzubereiten. Meine ganze Familie wird kommen. Ich freue mich und gleichzeitig bin ich unfassbar aufgeregt, weil ich sie ewig nicht mehr gesehen habe. Meine Cousins und meine Cousinen habe ich das letzte Mal gesehen, als wir Kinder waren. Damals haben wir zusammen gespielt, doch heute sind wir erwachsen und werden uns dementsprechend ganz anders gegenüber treten. Wir haben uns allesamt weiterentwickelt.

Enrico ist, genau wie mein Cousin Pietro, Arzt, meine Cousine Giulia ist Anwältin. Sara und Rafael studieren. Und dann komme ich. Nach meinem Abschluss habe ich mir ein halbes Jahr Auszeit genommen und bin viel gereist. Ich bin für ein Semester aufs College gegangen, habe das Studium dann allerdings hingeworfen und angefangen zu kellnern. Mein Traum war es damals immer, eines Tages ein eigenes Restaurant zu öffnen. Doch auch diesen Traum habe ich irgendwann aus den Augen verloren.

Wenn mich jemand gefragt hat, habe ich immer gesagt, ich würde nicht viel vom College halten. Die Wahrheit ist jedoch, dass es einfach nichts gibt, was so wirklich zu mir passt.

Ich habe einfach Sorge, dass meine Familie es verurteilen wird.

Nach einer langen, warmen Dusche steige ich aus der Wanne und trockne mich ab. Schließlich wickele ich das Handtuch um meinen Körper und verlasse das Badezimmer. Auf dem Weg in mein Gästezimmer komme ich an der Tür zum Kaminzimmer vorbei, in dem Will für unseren Aufenthalt in Italien untergekommen ist. Die Tür steht einen Spalt weit offen und ich sehe Will auf dem Sofa sitzen.

Er hat die Ellenbogen auf seinen Oberschenkeln abgestützt und seinen Kopf in seine Hände fallen lassen. Sein Anblick erfüllt mich mit Sorge, denn er sieht völlig fertig aus. Für den Bruchteil einer Sekunde spiele ich mit dem Gedanken anzuklopfen, lasse es dann jedoch bleiben.

Statt ihn auf mich aufmerksam zu machen, laufe ich also weiter und verschwinde in meinem Gästezimmer. Ich schließe die Tür ab und ziehe mir frische Kleidung an. Daraufhin bürste ich mir das Haar und föhne es, bis es fast trocken ist. Den Rest lasse ich an der Luft trocknen.

Meine Großeltern legen großen Wert darauf, dass wir alle gemeinsam zu Mittag essen, weshalb ich direkt nach unten gehe. Da ich Großmutter noch beim Tischdecken helfen möchte, folge ich dem herrlichen Duft des Essens in die Küche. Doch von meiner Großmutter ist keine Spur. Auch im Esszimmer finde ich sie nicht auf.

„Oma?", rufe ich durchs Haus.

In dem Moment öffnet sich die Tür zum Keller. Großmutter kommt dicht gefolgt von Will heraus, der eine Kiste Wasser schleppt. „Danke, William. Alleine hätte ich das nicht geschafft", bedankt sie sich bei ihm. Will lächelt sie an und nickt beinahe schüchtern. „Gerne", sagt er. Er scheint mich noch nicht bemerkt zu haben. Erst, als meine Großmutter an ihm vorbei zu mir schaut, dreht Will sich mir zu. Das warme Lächeln, welches er bis eben noch auf seinen Lippen getragen hat, verblasst. Seine grauen Augen bohren sich tief in meine. Ich erkenne den Schmerz, der in ihnen aufblitzt.

„Hallo Sofia", sagt meine Oma und küsst mich links und rechts auf die Wange. „Das Essen ist noch nicht ganz fertig", teilt sie mir daraufhin mit.

„Ich.. eigentlich wollte ich dich fragen, ob du Hilfe beim Tischdecken brauchst?", erwidere ich noch leicht neben der Spur, weil ich zu sehr auf Will fixiert bin, der regungslos dasteht und mich ansieht. Ich senke meinen Blick und presse die Lippen aufeinander.

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