1- Vom Sinn des Lebens und Träumen

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Vio

Ich war immer mit der Erwartung aufgewachsen, das Leben würde etwas Großes für mich bereithalten. Selten gab ich mich mit der einfachsten, der naheliegendsten Lösung zufrieden, suchte immer nach etwas mehr. Zumindest redete ich es mir ein, bildete mir ein, ich wäre auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Doch spätestens, nachdem ich die Schule beendet hatte, sah ich mich mit der Realität konfrontiert. Weder war ich etwas besonders, noch würde das Leben etwas für mich bereithalten, das besonders war und schon gar nicht würde ich den Sinn des Lebens finden. Und so gab ich es auf, band meine Träume zusammen und verstaute sie tief, tief in meinem Inneren. Ich spielte meine Rolle, die für mich vorgesehen war in dieser Welt. Fing an zu studieren. Nichts was mich sonderlich interessierte, aber auch nichts, dem ich zu sehr abgeneigt war. Mit den Jahren akzeptierte ich es, akzeptierte meine zerrüttete Beziehung zu meinen Eltern, die selbst nach der Verlobung mit Alexander nicht besser wurde. Wohl möglich weil sie merkten, dass ich ihn nicht liebte, nicht wirklich zumindest. Doch es passte ins Bild, in das Leben, welches sie für mich geplant hatten. Eins, indem ich nicht ich war, nicht ich selbst. Aber das war schon in Ordnung, es genügte mir, erleichterte so vieles. Und wenn das Leben schon nicht mehr für mich bereithielt, warum dann nicht das akzeptieren, das einem als eine erträgliche Alternative erschien?
Das ich so etwas wie Glück nur mit mir alleine spürte, dass ich Alexanders Küsse oft kaum aushielt, seinen Heiratsantrag am liebsten vergessen würde, seine Familie mich wahrscheinlich auch nur wegen meiner eigenen akzeptiert, das alles band ich genauso zusammen wie meine Träume. Mir ging es gut. Wirklich. Wirklich gut. Und gut, war doch gut, oder?

***

Meine Bücher lagen schwer in meinem Rucksack, als ich, wie so oft, viel zu spät an der Kreuzung zu der Universität stand. Sie trugen nicht gerade dazu bei, meine Stimmung zu heben, ebenso wenig der Gedanke daran, gleich den ganzen Vormittag mit meiner elendigen Arbeitsgruppe zu verbringen. Sicher, sie waren alle ganz nett, aber im Gegensatz zu ihnen brannte ich nun einmal nicht für Biochemie. Das einzig gute daran war, dass ich so auch so gut wie nichts beitragen musste.
Ein weißer Knäuel schlich sich in mein Blickfeld, ein riesiger weißer Knäuel, dessen Schwanz unaufhörlich wippte, während er ebenfalls zu mir zu schauen schien. Er passte hier nicht hin, zwischen die Menschen in ihren Anzügen und Aktenkoffern, gerade auf dem Weg ins Büro. Ich musste unwillkürlich lächeln, als er sich an einen dieser Männer vorbei rieb und eine unbemerkte, weiße Haarspur an seinen Beinen hinterließ. Die Ampel sprang auf Grün und alle setzen sich in Bewegung, alle außer mir. Ich starte den Hund an, der immer näher kam und an seiner Leine zog. Erst als er unmittelbar vor mir stand und weggezogen wurde, bemerkte ich das er keinem der Anzug träger gehörte. Kräftige Hände umklammerten seine Leine, Hände, die staubig aussahen und die unter einem zerrissenen Karohemd hervorschauten. Ich sah nicht mehr als schwarze Haare, als ich der Person nachschaute. Sah, wie der Hund sich immer wieder zu mir umdrehte und hob die Hand, um ihm zuzuwinken. Sie passte nicht hier hin, die Person mit dem weißen Knäuel und doch verschmolz sie mit den Bäumen in der Allee, in die sie einbog. Sie passte mehr in die Natur, mit ihrer durch Farbflecken gesprenkelten Hose.
Erst als ein Auto hupte, konnte ich mich losreißen von ihr oder ihm. War diese Person glücklich?
Warum fragte ich mich das jetzt? Kopfschüttelnd lief ich über die Straße und doch ging es mir nicht aus dem Kopf, dieser winzige Moment, an dem wir uns gegenüberstanden und doch nicht wirklich etwas sehen konnten.

***

Alexander redete, er sprach immer viel, am liebsten über seinen Job oder seine Hobbys und ganz besonders liebte er es, wenn er dies vor anderen tun konnte. Es gefiel ihm, dass ich ihn erzählen ließ, die ganze Zeit und er verstand nicht, dass ich es nicht tat, weil ich seine Geschichten so faszinierend fand, sondern weil ich seinen Freunden einfach nichts zu sagen hatte.

Sommergewitter RegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt