der Brief

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Sie zog ihren Pulli etwas weiter über ihre Finger. Mit gesenktem Blick lief sie auf die Bushaltestelle zu. Ihre schwarzen Haare mit den roten Spitzen fielen ihr vors Gesicht. Der viel zu große, schwarze Pulli mit dem Totenkopf verdeckte ihre mit Narben übersäten Arme, ihre Silberketten klimperten bei jedem Schritt. Die schwarze, zerrissene Hotpants wurde von einem mit stacheln besetzten Gürtel gehalten. Die dunkle Strumpfhose hatte einige Laufmaschen und steckte in Stiefeln. Für den Sommer war diese Kleidung eindeutig zu warm, aber das störte sie recht wenig.

Sie war depressiv. Wollte nicht mehr, war nicht mehr dazu in der Lage, positive Gefühle zu empfinden. Sie war verloren und nutzlos, seit einer viel zu langen Zeit schon.

Sie kauerte sich in eine Ecke der Haltestelle, wartend darauf, dass der Bus kam. Freunde hatte sie seit langer Zeit keine mehr. Alle hatten sie verlassen, als es sie sie am meisten benötigt hatte. Traurig blickte sie auf den Boden, zwar behauptete sie immer, dass diese Freunde ihr nie etwas bedeutet haben und das ihr alles egal war, aber dem war nicht so. Eigentlich war ihr Herz aus Glas und schon seit zu langer Zeit zersplittert.

Sie musterte den Boden. Schmutzig, anders war sie es auch nicht gewohnt. Doch dort auf dem Boden lag etwas. Langsam bückte sie sich um das weiße Stück Papier vom schwarzen Boden aufzuheben. Sie klopfte das bisschen Dreck ab und faltete den Zettel auseinander.

Taddl,

ich bin froh, dass du in meinem Leben existierst. Du bedeutest mir alles, mit dir teile ich jede schöne Erinnerung, selbst wenn sie noch so klein und unbedeutend sind. Mein Universum würde niemals das selbe ohne dich sein.

Du bedeutest mir so viel, ich könnte nie die richtigen Worte dafür finden. Allein, wenn du lächelst, löst das so viel in mir aus, ich kann es nicht beschreiben. Im laufe der Zeit bist du mir wichtig geworden. Viel zu wichtig, als dass es bloß reine Bruderliebe wäre, die ich für dich empfinde.

Ich habe Angst vor deiner Reaktion, wenn ich dir das anvertraue. Doch ich kann nicht länger alles vor dir verheimlichen. Du bist trotz allem mein Brudi, mein Rettungsanker, derjenige, der mich auffängt, wenn ich falle. Du hast das Recht, es zu wissen: Taddl, ich liebe dich. Mehr als ich irgendwen zuvor geliebt habe

Ardy

Gerührt von diesen Worten liefen ihr Tränen über die Wangen und zogen eine schwarze Spur über ihre Wange. So wunderschöne Worte würde nie jemand zu ihr sagen. Sie beschloss, das Papier zu behalten. Schnell wischte sie sich über ihr Gesicht und steckte den Zettel in ihre Hosentasche. Der Bus erreichte die Haltestelle.

Doch auf einmal rannte ein Junge mit braunen Haaren in sie hinein und riss sie mit zu Boden. Er sah panisch aus. "Könntest du bitte von mir runter gehen?", fragte sie leise und kalt. "Hast du ihn gesehen?", fragte der Junge sie panisch. "Wen?", fragte sie.

Der Junge stand auf und reichte ihr die Hand. Zögernd nahm sie diese nette Geste an und wurde auf die Beine gezogen. "Den Zettel", meinte der Junge verzweifelt. "War es eine Liebeserklärung?", fragte sie ruhig. Der Junge nickte heftig.

"Hier", meinte sie leise und streckte ihm mit zitternder Hand den Brief entgegen. Sie war etwas traurig, diese wunderschönen Worte herzugeben, aber diese waren so oder so nicht an sie gerichtet. Der Junge schaute sie mit großen Augen an und umarmte sie stürmisch. "Danke", flüsterte er in ihr Ohr. Dieses Wort hatte sie lange nicht mehr mit ihr im Zusammenhang gehört und lange hatte sie auch keine Körperwärme mehr von jemand anderem gespürt.

"Weißt du was? Ich lad' dich jetzt einfach zum Kaffe-trinken ein", meinte er und zog sie an ihrer Hand, ohne auf eine Antwort zu warten, in Starbucks hinein. Als beide ein Getränk vor sich stehen hatten, fragte er: "Und, wie heißt du?". "Delia", antwortete sie. Der Junge nickte: "Ich heiße Ardy".

"Wie ist dieser Taddl so?", fragte sie nach einer Weile, da sie die Stille, die die beiden umgab, durchbrechen wollte. "Ich weiß nicht, wie ich ihn dir beschreiben soll...er ist so ein wunderbarer Mensch", fing Ardy an zu Schwärmen und erzählte ihr sehr viel über seinen besten Freund. Während des Gesprächs schlich sich ein zartes Lächeln auf ihr Gesicht. Sie hatte schon so lange nicht mehr gelächelt...

"Und wieso sagst du es ihm dann nicht ins Gesicht?", fragte sie nach einer Weile. "Ich traue mich nicht", meinte Ardy traurig. Delia schüttelte ihren Kopf, sodass ihre schwarzen Haare umher flogen. "Du musst. Ein Brief ist doch unpersönlich. Wenn du ihn wirklich, richtig und aufrichtig liebst, dann solltest du ihm das ins Gesicht sagen. Und auf eine direkte Reaktion warten", meinte sie.

"Ja, ich weiß...", nuschelte Ardy. Die beiden redeten noch etwas, tauschten Nummern aus und sie merkte, dass sie sich wohl bei Ardy fühlte. Sie mochte seinen Humor.

"Ardy?", fragte auf einmal eine tiefe Stimme hinter den beiden. Sie hörten auf zu lachen und Ardy drehte sich um. "Taddl", hauchte er und seine Wangen röteten sich. "Ich gehe dann mal. Viel Glück, Ardy", meinte Delia und erhob sich. Sie strich sich ihre Haare aus dem Gesicht, lächelte Ardy noch einmal ermutigend zu und ging dann. Nach ein paar Schritten drehte sie sich noch einmal kurz um und sah, dass Taddl sich zu Ardy runterbeugte und ihn Küsste.

One Shots von YoutubernWo Geschichten leben. Entdecke jetzt