Es war erst bald darauf im Internat, dass ich Perdix zum zweiten Mal erspähte - ein wenig größer als die anderen Mädchen um ihn herum ragte er aus dem Schulchor heraus, die dunkle Internatsuniform ein wenig kurz an den elfenbeinfarbenen Armen und die Stimme etwas tiefer als die der anderen Mädchen. Sie sangen zum Morgen Stern auf den ich schaue und die Sonne hinter dem Glas jagte glimmend wie ein schmelzender Stern über den Himmel. An jenem Morgen - es muss längst Hochsommer gewesen sein - streiften sich unsere Blicke erstmals und Perdixs Lippen kräuselten sich zu einem Lächeln, das so ehrlich und doch so krampfhaft wirkte, als hielte es alles in sich, was sich hinter seinen Zähnen versteckte. Es war dasselbe Lächeln meiner Mutter, wenn sie manchmal am Webstuhl Seide mit weichen Ranken und süßen Kräutern wob; wenn sie Haine voller himmlischer Seelen sponn, die niemandem gehörten außer ihr selbst. Ich drückte meine Hände ineinander und ich spürte meinen eigenen Herzschlag. Ich blickte Perdix so lange in die Augen, bis mich eine der Aufseherinnen eines tadelnden Flüsterns strafte und mich gleichzeitig auf den Umstand aufmerksam machte, dass ich aufgehört hatte, zu singen. Als ich erneut in Perdixs Richtung blickte - mitsingend diesmal - traf ich nur auf sein abgewandtes Gesicht, auf den Mund, der sich im Singen öffnete aber doch nichts von sich preisgab.
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elfenbeinwachs
Short Storyeine erzählung über perdix; einen internatssommer in der nähe von wien; seelenfreundschaft und schmelzende flügel, die mit tödlichen stürzen einhergehen.