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Es war ein lauer Herbstabend. Die Sonne ging bereits langsam unter. Lukas saß auf einer Bank, bewaffnet mit Notizblock und Stift und überlegte gerade, ob es Zeit wäre, seine Taschenlampe anzuschalten.

An seinen Songs hätte er auch Zuhause feilen können, aber hier am Feld, am Rande der kleinen Stadt in der er lebte, konnte er sich besser konzentrieren. Hier hatte er keine lästigen Ablenkungen. Und zu dieser Uhrzeit trieb sich hier eh niemand mehr rum. Vielleicht der ein oder andere Hundebesitzer, der noch eben seine Gassirunde erledigte, bevor das angekündigte Unwetter hereinbrechen würde.

Er schmunzelte, denn gerade war ihm eine richtig gute Songzeile eingefallen. Er kritzelte auf seinem Zettel herum, als er plötzlich ein Geräusch vernahm.

Der 16-jährige hob den Kopf und blickte in die Richtung, aus der es gekommen war. Dort an der Einmündung zum Feldweg, unter einer flackernden Straßenlaterne stand jemand. Es mussten an die 300 Meter zwischen ihnen liegen, daher erkannte er im ersten Moment nicht, wer diese Person war. Aber dem Umriss nach zu urteilen, ging es ihm oder ihr nicht gut, denn jetzt schien sie sich an etwas abzustützen, und sich langsam auf die Knie fallen zu lassen.

Er stand auf. Hilfsbereitschaft wurde in seiner Familie groß geschrieben. Und Angst hatte er eigentlich keine, durch seine jahrelange Kung Fu- Erfahrung.

Als er näher kam, erkannte er ein Mädchen aus seiner Schule. Sie war ein Jahrgang unter ihm, er hatte seines Wissens nach noch kein Wort mit ihr gewechselt. Er glaubte zu wissen, dass sie vor 2 oder 3 Jahren mit ihrer Familie aus England hier her gezogen war. Warum, war ihm ein Rätsel. Warum sollte man in eine Kleinstadt in Norddeutschland ziehen, wenn es doch viel coolere Orte zum Leben gab?

Das Mädchen kauerte auf dem Schotterweg. Sie schluchzte und schien ihn nicht zu bemerken, als er näher kam.

Vorsichtig kniete er sich zu ihr herunter. „Hey..." sagte er und streckte seine Hand nach ihr aus, um sie an der Schulter zu berühren. Sofort zuckte sie zusammen und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Hey, whoah. Alles gut!" sagte er beschwichtigend, als sie vor ihm weg rutschte. „Ich wollte nur fragen, ob ich dir helfen kann...".

Erst jetzt bemerkte er das getrocknete Blut an ihrer Nase und die Schwellung ihres rechten Auges. „Was ist denn mit dir passiert?".

Tränen liefen ihr noch über die Wangen, aber sie hatte aufgehört zu schluchzen. „Ach, nicht so wichtig..." sagte sie leise und drehte ihr Gesicht von ihm weg.

„Natürlich ist das wichtig! Wer hat dir das angetan?" „Ich bin hingefallen" murmelte sie, und rappelte sich auf. Als ihr Blick auf ihre am Knie zerrissene Strumpfhose fiel, fing sie wieder an zu weinen und liess sich erneut zu Boden sinken. Sie lehnte mit dem Rücken an dem Laternenpfahl und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. „Scheiße, meine Mutter wird ausrasten" sagte sie dumpf.

Lukas setzte sich neben sie, achtete aber darauf, ihr genug Freiraum zu lassen.

„Hey, also... ich bin Lukas. Ich glaube wir gehen auf die gleiche Schule."  Vorsichtig hob sie den Kopf und musterte ihn von der Seite. „Ich... bin... Liz."

„Okay Liz. Also ich weiß nicht, was passiert ist, und es geht mich auch nichts an. Aber darf ich dir wenigstens helfen? Ich kann dich hier nicht so alleine sitzen lassen. Soll ich irgendwen für dich anrufen?"

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, bloß nicht! Wenn meine Eltern rausfinden, dass ich unterwegs war, bringen die mich um! Ich sollte mich doch nicht mit..." Sie brach ab und biss sich auf die Unterlippe.

„Mit wem solltest du dich nicht treffen?"fragte Lukas vorsichtig. Es schien ihr schwer zu fallen, den Namen zu sagen, denn sie fing wieder heftig an zu weinen.

„Ich wollte das doch alles nicht..." brachte sie hervor. „Ich... ich... dachte...ich würde ihm etwas bedeuten...".

Lukas legte einen Arm um sie. Zunächst verkrampfte sie sich, vergrub jedoch irgendwann ihr Gesicht in seiner Schulter.

Sie saßen eine gefühlte Ewigkeit schweigend da.

Irgendwann schien sie sich beruhigt zu haben, ihr Körper hatte aufgehört zu beben.

Sie hob ihren Kopf und sah ihn an. „Oh scheiße, tut mir leid..." schniefte sie, als sie sah, dass sie einen nassen Fleck aus Tränen und Mascara an seinem T-Shirt hinterlassen hatte.

Er winkte ab. „Alles gut."

Sie kramte ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase.

„Liz... möchtest du mir sagen, was passiert ist?" fragte Lukas vorsichtig. Er konnte es nicht ertragen, sie so verzweifelt und aufgelöst zu sehen. Und er hatte das Gefühl, dass mehr dahinter steckte.

Sie holte tief Luft.

„Kennst du... Stefan? Er müsste in deinem Jahrgang sein." Er überlegte kurz. „Der Typ aus der Fußballmannschaft? Der schmierige Kerl, rich kid, der immer mit Porsche vorgefahren wird?".

„Ja...der. Er ist... war... mein Freund"

„Nicht dein Ernst" brach es aus Lukas hervor. „Sorry, aber... das ist doch ein Vollidiot!"

Für einen kurzen Moment war so etwas wie ein Schmunzeln auf ihrem Gesicht zu erkennen. Doch dann sprach sie weiter, und ihr Gesicht verdüsterte sich wieder.

„Wir waren noch nicht lange zusammen... vielleicht 4 Monate oder so. Er war mein erster, richtiger Freund." Ihr Gesichtsausdruck verriet ihm, dass ihr diese Tatsache peinlich zu sein schein.

„Warte..." unterbrach er sie. „Hat ER dir das angetan?!" Lukas merkte, wie wütend sein Tonfall geworden war. Er spürte Verachtung in ihm hochkommen. Er hasste Gewalt. Aber vor allem hasste er solche asozialen Penner, die ihre Frauen und Freundinnen schlugen.

Sie nickte, wieder verlegen. „Er... wir... also ich...", sie rang nach Worten. „Er hatte mehr Erfahrung als ich. Und...ich fühlte mich noch nicht bereit für...den...nächsten Schritt".

Lukas ahnte, worauf das hinaus lief. Und seine Wut stieg nur noch mehr.

„Wir haben uns vorhin bei ihm getroffen...weil seine Eltern nicht Zuhause waren. Wir wollten halt einen gemütlichen Abend zusammen verbringen."

Er merkte, wie schwer es ihr fiel, darüber zu reden. Ihre Atmung ging schnell, sie schaute immer wieder auf ihre Hände, die damit beschäftigt waren, den Saum ihres Rockes zu umspielen.

„Ich wollte das alles nicht..." murmelte sie leise und wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht.

„Ich dachte eigentlich mein erstes Mal würde..." Sie brach ab.

Sie brauchte nicht weiter reden. Er wusste genau, was geschehen war. Lukas schaute sie mit offenem Mund an. Seine Faust ballte sich. „Dieser dreckige... ich würde ihn am liebsten..." presste er heraus, weil er vor Wut nicht anders konnte.

Der Tatendrang packte ihn. Er sprang auf die Beine und reichte ihr die Hand. „Komm, wir bringen dich zur Polizei."

Erschrocken sah sie hoch. „Das kann ich doch nicht machen!".

„ER kann das nicht machen! ER kann damit nicht davonkommen! Er hat dir wehgetan! Das ist eine Straftat!"

Zitternd nahm sie seine entgegengestreckte Hand und er zog sie hoch. „Ich weiß doch gar nicht, was ich sagen soll. Und die glauben mir doch sowieso nicht. Die werden sagen, dass ich dumm war und selbst Schuld bin."

„Das sollen die sich erstmal trauen!".

Zum ersten Mal an diesem Abend fühlte sie sich wieder sicher.

Den ganzen Weg zur Polizeiwache ließ er ihre Hand nicht los. Er blieb bei ihr. Er übernahm den Anruf bei ihren Eltern und er wartete, bis spät in die Nacht, bis sie endlich nach Hause konnte.

Ihr war klar, dass sie noch lange mit diesem Abend zu kämpfen haben würde.

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