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Die ersten zwei Stunden zogen sich dahin, und das obwohl Geschichte zu ihren Lieblingsfächern gehörte. Die Karenzvertretung hielt den Unterricht wie einen Vortrag ab, ihre Augenlider wurden mit jedem monotonem Wort von ihr schwerer. Jennifer hatte das Gefühl, das sie den zweiten Weltkrieg schon zum hundertsten Mal durchmachten, doch einige wichtig Ereignisse hatten sie dennoch nicht besprochen. Noch keiner der Lehrer hatte die Weiße Rose angesprochen oder die Mission Haudegen! Klar war der Krieg ein wichtiges Thema, aber sie kratzten immer nur an der Oberfläche und ihres Wissens nach gab es noch viel mehr, das es Wert war, gelehrt zu werden. 

Das Vibrieren ihres Handys riss Jennifer aus ihren Gedanken und sie legte es auf ihren Schoß, um die Nachricht unauffällig zu lesen. „Alles vorbereitet für Sonntag?" Die Nummer kannte sie nicht, aber es konnte nur Matt sein. „Matt?" Sekunden später kam die Antwort. „Ja, wer sonst? Wie vielen Typen hast du sonst deine Nummer gegeben?" „Dir hab ich meine neue Nummer auch nicht gegeben!" Ein zwinkerndes Smiley lächelte ihr entgegen. „Woher hast du sie? Die hab ich doch erst seit zwei Tagen?" „Geheimnis! Du hättest sie mir eigentlich geben sollen. Warum hast du die Nummer gewechselt?" Die Wahrheit war, dass sie einen neuen Vertrag hatte, der nicht mehr so billig war und sie endlich im Internet surfen konnte solange sie wollte. Ihre Nummer dabei zu wechseln kam ihr nur Gelegen, somit gab es eine Handvoll unangenehmer Leute, die sie jetzt nicht mehr anrufen konnten. „Mein Geheimnis! Und für Sonntag ist alles bereit." „Schreib mir, wie es gelaufen ist, cu!" Vorsichtig verschwand das Handy in ihrem Rucksack und sie lehnte sich zu Laura. „Hast du Matt meine Nummer gegeben?" Laura lächelte, sagte aber nichts dazu und drehte demonstrativ den Kopf zur Seite. Sie hätte die Nummern gleich übertragen sollen, aber war so irritiert von dem Geschenk gewesen, das es einfach in Vergessenheit geraten war. Ihre Mutter gab ihr nie einfach teure Geschenke, wahrscheinlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. Jennifer versuchte dem Unterricht zu folgen, was ihr nicht wirklich gelang.

Der Samstag wurde nicht besser als der Rest der Woche, ihre Mutter schlief auf der Couch ein, noch bevor der Film richtig losging. Etwas enttäuscht nahm sie das Popcorn und setzte sich an ihren Fragenkatalog, der langsam Formen annahm. Natürlich hatte ihre Mutter es verdient, sich auszuruhen, aber sie vermisste es Zeit mit ihr zu verbringen. Nachdem ihr Stiefvater auszog war und bevor ihr neuer Job losging, waren sie unzertrennlich gewesen. Die Aufmerksamkeit wieder auf ihre Aufgabe gewendet, wurde ihr klar, wie wenig sie über ihre Oma wusste. Natürlich hatten einige Gespräche auch die Vergangenheit mit einbezogen, aber immer nur flüchtig. Jennifer notierte sich, was ihr gerade durch den Kopf ging. 


1. Ist am Land aufgewachsen

2. Hat jung geheiratet

3. War schwanger bei der Hochzeit

4. Hausfrau und Mutter

5. Ausbildung zur Kindergärtnerin

6. Hatte viele Geschwister


Für eine Weile zerbrach Jennifer sich den Kopf, doch mehr wollte ihr nicht einfallen. Regen prasselte gegen ihre Fensterscheibe und die Stille schlug ihr plötzlich aufs Gemüt. Für gewöhnlich lief Musik im Hintergrund, heute war ihr aber nicht danach. Der graue Himmel machte es nicht besser, sie setzte sich aufs Bett und sah den Regentropfen zu. Ihr Bett war ihr Rückzugsort und sie konnte Stunden darin verbringen, wusste aber auch, das es keine gute Idee war, sich einzusperren.

Jennifer sah auf ihr Handy, Laura hatte ihr ein Bild geschickt. Lucas, Matt und jemand, den sie nicht kannte, standen bei einer Kletterwand und grinsten in die Kamera. Das war doch keine Einbildung, er war einfach überall! Jennifer schmiss das Handy auf ihr Bett, es prallte von dort ab und landete am Boden. „Mist!" Sie sprang auf, ärgerte sich kurz über sich selbst, nahm das Handy, das zum Glück heil war, und legte sich wieder auf ihr Bett. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Opa, viel zu lange war sie nicht mehr an seinem Grab gewesen. Da kam ihr die Kette in den Sinn, es war schon ewig her, dass sie an sie denken musste. Ein plötzlicher Adrenalin Stoß brachte Jennifer dazu auf zu springen und die unterste Schublade ihres Schreibtisches zu öffnen. Etwas ruhiger nahm sie ein kleines Schmuckkästchen heraus und setzte sich auf den weichen Teppich der auf dem Boden lag.

Vorsichtig zog sie die Kette heraus und betrachtete den Verschluss. Er ließ sich nicht mehr schließen, weswegen die Kette auch hier drinnen gelandet war. Für viele Jahre hatte sie dieses Schmuckstück nicht abgenommen, doch als es kaputt ging, wollte sie nicht die Gefahr eingehen, die Anhänger zu verlieren. Damals war es neben ihren Ohrringen das einzige Schmuckstück gewesen, das sie besaß. Vor einer Weile hatte sie sich billigen Modeschmuck geholt, den sie jedoch immer vergaß zu tragen. Es war ihr ein Rätsel, warum sie nicht schon früher auf diese Idee gekommen war. Jennifer fädelte die Anhänger auf eine der neuen Ketten, legte sie um und betrachtet sich im Spiegel.

Tränen versperrten ihr die Sicht, viel Kleinigkeiten kamen ihr in den Sinn, was würde sie dafür geben, die Zeit zurückzudrehen. Wie lustig die Autofahrten mit ihren Großeltern waren, wie es damals in ihrer Wohnung gerochen hatte und wie sie heimlich von der Nachspeise genascht hatte und ihre Oma sie erwischte. So viele schöne Erinnerungen, die sie nie vergessen würde, doch vor allem das Gefühl der Geborgenheit war etwas, das sie für immer begleiten würde. Jennifer ärgerte sich auch über sich selbst, dass sie die Zeit nicht zu schätzen gewusst hatte und das sie gerade den gleichen Fehler wieder mit ihrer Oma machte. Ihre Finger fuhren ganz automatisch über die Delle auf dem Herzen und dann über das Schuppenmuster des Fisches. 

Es fühlte sich gut an, als ob ein Teil von ihr wieder da war, wo er hingehörte.

ꕤ Vergissmeinnicht ꕤWo Geschichten leben. Entdecke jetzt