Kapitel 4

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Holmes und ich entschlossen uns, in die Baker Street zurückzufahren, um die Ereignisse des morgens zu besprechen und das Frühstück etwas verspätet nachzuholen. „Sie haben mir noch gar nicht wirklich von dem Gespräch von Robinson berichtet." bemerkte ich zwischen zwei Bissen von meinem Sandwich. „Richtig. Dass er den Iago spielt, ist Ihnen sicher bekannt." Ich nickte und nippte an meinem Tee. „Auch er hat ein Auge auf die junge Miss Parker geworfen, wie mir scheint." „Möchten Sie damit andeuten, dass auch er ein Motiv gehabt hätte?" „Nun, ich bin mir nicht sicher, denn er erwähnte außerdem, dass er sich viel für das Stück vorbereitet hatte. Ihm ist seine Schauspielkarriere sehr wichtig, er hätte also kein Motiv, das Theater zu sabotieren." „Vielleicht wollte er sich an Hill rächen, weil er ihm eine begehrte Rolle weggeschnappt hat." „Diesen Gedanken hatte ich bei der Befragung ebenfalls, doch die einzige Rolle, für die er vorsprach, war die des Iago. An Roderigo hatte er kein Interesse. Ebenfalls ein Motiv, das dagegenspricht." „Äußerst merkwürdig", merkte ich an. „Ja...äußerst merkwürdig. Aber es kommt noch seltsamer." „Noch seltsamer? Jetzt übertreiben Sie nicht Holmes!" „Ich übertreibe nicht, mein lieber Doctor Watson. Als ich mich auf den Weg nach draußen machen wollte, um nach Ihnen zu suchen, hörte ich Logan plötzlich hinter meinem Rücken etwas flüstern. Ich habe nicht jedes Wort verstanden, aber ich bin mir sicher, es sagte so etwas, wie: „Harlekin, Harlekin, da geht dein erstes Opfer hin. Wer wird es nur als nächstes sein?" „Das sagte er?" „Allerdings. Doch als ich mich umdrehte und ihn nach seinen Worten ausfragen wollte, leugnete er, etwas gesagt oder gehört zu haben." Ich schüttelte ungläubig den Kopf. „Also...das ist ja nicht zu fassen. Wie eigenartig!" „Nicht wahr? Der Fall nimmt bereits eine absonderliche Wendung an. Wenn wir nur einen Anhaltspunkt mehr hätten, könnten wir vielleicht den nächsten Mord verhindern." „Sind Sie sich so sicher, dass einen zweiten Mord geben wird?" „Hundertprozentig! Vielleicht sogar einen dritten, wenn wir es nicht verhindern können." Er stand auf und begann, ruhelos im Raum auf und abzuwandeln. Dann blieb er plötzlich stehen und sah mich an. „Sagen Sie...welche Figuren sterben in Othello?" Ich sah ihn verdattert an. „Da fragen Sie mich ja was. Lassen Sie mich überlegen... es wollen mir nur vier Figuren einfallen: Rodrigo, Desdemona, Emilia und Othello selbst. Wieso fragen Sie?" „Ach, nur eine Theorie, Watson." antwortete mein Freund nachdenklich. „Nur eine Theorie." Einen Augenblick war er wieder still und dachte nach. „Die Schauspielerin der Emilia... Ich kann mich nicht erinnern, sie heute zu Gesicht bekommen zu haben. Sie etwas?" „Nicht, dass ich wüsste." „Eine andere Frage: Haben Sie das Buch gelesen?" „Welches Buch?" „Das Buch zu dem Theaterstück natürlich. Über was reden wir denn die ganze Zeit?" „Aber natürlich. Das ist schon eine ganze Weile her... Ich hatte es mir damals in einer Bibliothek ausgeliehen." „Gut, dann habe ich einen wichtigen Auftrag für Sie. Wären Sie so freundlich und beschaffen mir das Buch?" „Aber natürlich. Wenn es sonst nichts weiter ist." Ich erhob mich von meinem Stuhl, zog meine Jacke über und machte mich auf den Weg nach draußen.

Als ich eine halbe Stunde später wiederkam, saß Holmes auf dem Sessel und rauchte schweigend seine Pfeife. Er grüßte mich nicht, doch es kümmerte mich nicht sonderlich, ich war von meinem Mitbewohner schon seltsameres gewöhnt. Ich legte das Buch auf den kleinen Abstelltisch neben den Sessel, setzte mich auf das Sofa und schlug ein anderes Buch auf, welches ich ebenfalls aus der Bibliothek mitgebracht hatte. Ein paar Minuten vergingen, ohne dass einer von uns auch nur ein Wort sagte. „Der Harlekin." Ich hob den Kopf. „Wie bitte?" „Der Harlekin. Er ist ein Spaßmacher. Er lenkt Schicksale und entlarvt Lügner. Niemand hat ihm etwas zu sagen, er ist es, der die Fäden zieht." Holmes hatte die Flamme der Pfeife erstickt und saß nun leicht nach vorne gebeugt, die Arme auf die Knie gestützt, und starrte ins Leere. „Hill hat etwas Unrechtes getan. Der Harlekin hat es uns selbst gesagt: <Er war schlau, benahm sich dumm, darum brachte ich ihn um>. Wer auch immer die Tat verübt hat, schien etwas über ihn zu wissen, dass ihm einen Anlass zum Mord gab. Aber vielleicht wusste auch Hill etwas über den Täter, etwas, dass er nicht hätte wissen sollen..." Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Es ist zum Verzweifeln, Watson. Wir sind genau so schlau wie Scotland Yard sonst. Wir wissen nichts, dass uns weiterbringen könnte. Oder haben wir etwas übersehen...?" Eine Weile war es wieder still, während Holmes seine Gedanken sortierte. „Eines steht fest", sagte er dann. „Edward Hill wurde nicht ermordet." Ich sah ihn etwas derangiert an. „Wie bitte? Aber, wenn er nicht ermordet wurde, warum haben wir dann die Aussagen der anderen Schauspieler aufgenommen? Und was hat es mit der Puppe auf sich?" „Hill erlitt einen Herzinfarkt, aber jemand hatte die Absicht, ihn zu ermorden. Und der Mörder hatte Glück...unglaubliches Glück, er musste sich nicht die Finger schmutzig machen. Was ich allerdings nicht verstehe...wieso lässt er den Tatort nach einem „Mord" aussehen? Wäre es nicht viel schlauer gewesen, diesen erst gar nicht zu verändern? Was war der Sinn dahinter?" „Nun, besteht vielleicht die Möglichkeit, dass er jemanden warnen wollte?" Damit hatte ich die Aufmerksamkeit meines Freundes auf mich gezogen. „Erläutern Sie doch bitte Ihren Gedanken, Watson." Ich räusperte mich etwas. „Es könnte doch sein, dass der Mörder jemandem ein Zeichen geben wollte...jemand der vielleicht etwas über ihn wusste, verstehen Sie?" „Ich verstehe sehr gut und muss gestehen, dass dies ein genialer Gedanke ist!" „Vielen Dank, Holmes", antwortete ich geschmeichelt. „Eine Drohung! Das ich darauf nicht selbst gekommen bin! Wenn wir wissen, wem er oder sie vielleicht drohen wollte, könnte uns das Ganze ein gutes Stück weiterbringen!" Holmes sprang auf und warf sich seinen Mantel über. „Worauf warten Sie denn? Kommen Sie schon!", rief er mir ungeduldig zu. Ich sah ihn verdattert an. „Wohin geht es denn nun schon wieder?" „Zum Scotland Yard. Ich muss, sagen wir, ein paar Dinge recherchieren." 

Sherlock Homes und der singende HarlekinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt