Eine Minute - Lillys Sicht

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,,Wir werden nun die Maschinen abstellen, Frau Schilling '', informierte der Arzt meine Mutter. ,,Damit werden die lebenserhaltenden Maßnahmen von Ihrem Mann beendet. Deshalb frage ich Sie noch einmal: Sind Sie sich wirklich sicher, dass wir die Maschinen abstellen sollen?''

Ich sehe Mama an und bemerke, dass sie stark schluckt. Ihre Wangen sind nass von den Tränen. Ihr ganzer Körper zittert. Und trotzdem sitzt sie da, neben dem Bett, wo mein Vater liegt und hält meine Hand.

,,Ich bin mir sicher, bitte machen Sie weiter.''

Eine Krankenschwester drückt an irgendwelchen Knöpfen herum an der Maschine, die meinen Vater angeblich noch am Leben erhält. Ich sehe ihn an, wie er mit geschlossenen Augen daliegt. Es sieht aus, als würde er bloß schlafen, was aber nicht zutrifft. Man hat mir erklärt, dass er nicht mehr bei uns ist.

Hirntot haben sie gesagt. Er hätte ohnehin nie wieder ein Bewusstsein erlangt. Ich glaube nicht an Wunder und doch gerade jetzt, wünsche ich mir, dass ich an sie glauben könnte. Dann würde ich mir wünschen, dass es ein Wunder gäbe, welches meinen Vater wieder ins Leben rufen könnte.

Ich will mir keine Welt vorstellen, in der er nicht mit mir lacht oder mich in seinen starken Armen hält. Ohne ihn zu sein, ist für mich wie ein wahrgewordener, schlimmer Albtraum.

,,Wenn ich ihm gleich die Atemmaske abnehme, wird er nicht mehr atmen können. Sein Herz wird daraufhin aufhören zu schlagen und er wird friedlich von uns gehen.''

Meine Mutter nickt schweigend, ihre Hand drückt meine noch fester. Mir ist danach in Tränen auszubrechen, doch ich reiße mich zusammen. Ich möchte am liebsten die Welt anschreien, warum sie mir einen Menschen wegnimmt, der mir so viel bedeutet, mein Mund schweigt jedoch.

,,Nimm die Hand von deinem Papa, Lilly.''

Ich greife nach ihr und verschränke seine Finger mit meinen. Sie sind warm und in diesem Moment auch irgendwie sehr tröstend. Mir entgehen nicht die mitleidigen Blicke, die mir der Arzt und die Krankenschwester zuwerfen, auch an ihnen scheint nicht alles einfach spurlos vorbeizugehen.

Die Krankenschwester befreit meinen Vater vorsichtig von der Maske und dann passiert es. Sein Brustkorb hebt sich kurz, als würde er einen letzten Atemzug nehmen. Im Zimmer herrscht absolute Stille. Keiner weiß so wirklich, was er sagen soll.

,,Todeszeitpunkt: 14:15 Uhr'', lauten die niederschmetternden Worte der Krankenschwester, die von uns allen als erstes wieder die Fassung erringt, nachdem sie kurz auf die Uhr an der Wand geblickt hat.

Es ist ein Tag wie jeder andere. Nur hier, in diesem Zimmer, scheint die Zeit für einen Moment stillzustehen. Nach 12 großartigen Ehejahren drückt eine Frau ein letztes Mal einen Abschiedskuss auf die Stirn ihres Ehemanns. Die 11 jährige Tochter umarmt ein letztes Mal den Helden ihrer Kindheit und flüstert ihm ins Ohr, dass sie ihn unendlich lieb hat.

𝐃𝐮 𝐛𝐢𝐬𝐭 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐚𝐥𝐥𝐞𝐢𝐧! ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt