Am Friedhof - Lillys Sicht

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Mittlerweile hat der leichte Abendwind meine Tränen getrocknet. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass Noah ausgerechnet die Wunde an mir findet, welche seit dem Tod meines Papas offen an meiner Seele und an meinem Herzen klafft. Wahrscheinlich hat er nicht einmal absichtlich das Gesprächsthema auf meinem Vater gelenkt, sondern ist in diesem Moment einfach neugierig gewesen. Aus den fünf  Jahren, in denen ich bereits ohne ihn lebe, habe ich gelernt, dass man mit anderen nicht über Verlust oder über die eigene Trauer spricht. Stattdessen soll man sie mit sich selbst ausmachen und gucken, dass man wieder mit seinem eigenen Leben klarkommt.

Aber wie soll das gehen, wenn dieser ganz bestimmte Mensch einfach fehlt?

Wie soll man sein Leben leben in der Gewissheit, dass man auf sich allein gestellt ist?

Wo ist die Person hin, wenn sie verstorben ist?

Existiert ihr Geist noch hoch oben am Himmel und schaut auf uns hinunter?

Ich weiß nicht, ob meine Mama überhaupt noch an Papa denkt, sie spricht leider nicht mit mir darüber. Keine Ahnung, ob sie überhaupt seinen Tod richtig verkraftet hat. Sie hat all seine Sachen aus der Wohnung ausgeräumt. Nur die Bilder in meinem Zimmer sind geblieben, weil ich es ihr verboten habe, sie abzuhängen. Vielleicht ist es einfacher für sie so zu tun, als hätte es ihn nie gegeben. Vielleicht ist es ihre Art der Verdrängung, um sich nicht mit der Trauer in ihr auseinandersetzen zu müssen. Ich jedenfalls kann ihn nicht vergessen und möchte es nicht. Ich glaube nicht an den Satz ,,Die Zeit wird alle Wunden heilen'', sondern eher an: ,,Die wird zwar nicht alle Wunden heilen, aber es wird besser werden. Du wirst lernen, dass du stärker bist, als du denkst''.

Wenn ein geliebter Mensch einem weggenommen wird, ist man gebrandmarkt für immer. Man ist nicht mehr das unbeschwerte Kind oder dieselbe Person, die man einmal war. Je mehr Jahre vergehen, desto schwammiger wird die Erinnerung an meinem Vater. Mittlerweile kann ich nicht mehr genau sagen, wie sich seine Stimme angehört hat, jedes kleine Detail seines Gesichtes beschreiben und habe längst vergessen, was sein Lieblingsessen oder seine Lieblingsfarbe war. Ich kann nicht mehr jede Erinnerung aus meiner Kindheit automatisch aus meinem Gedächtnis hervorkramen. Und ich habe Angst davor, dass er eines Tages vollkommen aus meiner Gedächtnisplatte gelöscht wird.

Der Friedhof ist ein schöner Ort, weil ich dort das Gefühl habe ihm am nächsten zu sein. Sein eingravierter Name, sein Geburtsdatum und Todestag zeugen davon, dass es ihn auf dieser Welt gegeben hat. Auch wenn ich das ein oder andere Mal in Tränen ausbreche, wenn ich hierher komme, er hat hier seinen Platz der Ruhe und irgendwie ist das für mich sehr tröstlich.

In der Stille finde ich die Zuflucht, die ich ab und zu brauche. Für viele mag das lächerlich klingen, aber oftmals spreche ich, wenn ich vor seinem Grab stehe, in Gedanken mit ihm, erzähle, wie es mir geht und beende jedes Mal meinen inneren Dialog mit ihm damit, dass ich ihn so sehr vermisse. Vielleicht wird sich meine Mama eines Tages in einen neuen Mann verlieben und bereit sein, sich auf ihn einzulassen. Bei mir jedoch wird keine andere Person jemals erneut den Platz füllen können, den er leer und kalt hinterlassen hat, als er von uns gegangen ist. Und das werde ich wohl oder übel akzeptieren müssen.

Nachdem ich die neuen Magnolien, die ich heute extra für ihn gekauft habe, in die Erde eingepflanzt habe, verabschiede ich mich gedanklich von ihm und beginne den Weg zurück zum Ausgang zu laufen. Ich blicke währenddessen auf all die Gräber und versuche mir vorzustellen, dass diese für all die Menschen stehen, die nie wieder zurückkommen werden. Mag sein, dass ihr Leben für unsere riesige Welt eher unbedeutend war.

Doch für jemanden müssen sie die Welt bedeutet haben. Da es 22 Uhr in der Nacht ist, bin ich allein und treffe auf keine Menschenseele. Das einzige, was ich hören kann, sind meine Schritte und das Rascheln der Bäume. Zum Glück trage ich eine warme Jacke, die mich vor der Kälte schützt. Ich erreiche fast den Ausgang, als ich aus der Ferne ein leises Geräusch hören kann, was mich unvorbereitet erschreckt. Sofort bleibe ich stehen und spitze die Ohren.

Wer zum Teufel stattet um diese Uhrzeit außer mir dem Friedhof einen Besuch ab?

Ganz leise versuche ich das Geräusch zu orten und gehe in die Richtung, wo es herzukommen scheint. Mein Herz rast schnell, weil ich nicht weiß, was mich gleich erwarten wird. Ich atme tief durch und rede mir selbst ein, mich zu beruhigen.

Als ich es klar und deutlich hören kann, verstecke ich mich hinter einem Busch und kneife die Augen etwas zusammen, um in der Dunkelheit etwas sehen zu können. Vor einem Grab kniet eine Person, die gerade zu weinen scheint. Sie hat mir den Rücken zugewandt, daher kann ich ihr Gesicht nicht sehen. Sie trägt eine Basecap, ein weißes T-Shirt und eine Jeans, zumindest glaube ich das zu sehen.

Obwohl ich diesen Mensch nicht kenne, habe ich Mitgefühl für ihn. Weil ich weiß, wie schwierig es ist, sich von jemanden für immer verabschieden zu müssen, den man sehr geliebt hat. Der Schmerz, der bleibt, kann dir niemand wegnehmen. Er wird irgendwann ein Teil von dir. Es ist dunkel, kein einziger Stern ist am Horizont zu sehen und doch habe ich das Gefühl, dass diese Person gerade die Dunkelheit der Nacht nutzt, um allein zu sein.

Denn in sich selbst muss sie ebenfalls so viel Dunkelheit tragen, weil es verdammt schwer ist, weiterzumachen und so zu tun, als wäre nichts. Und als das Licht das Mondes auf das Profil trifft, erstarre ich zu einer Eissäule. Ich kann jetzt Teile des Gesichts einigermaßen gut erkennen und weiß nun sogar, wer diese Person ist, die genauso wie ich, während alle anderen schlafen, zum Friedhof geht! Es handelt sich dabei um jemanden, mit dem ich absolut am wenigsten gerechnet habe. Noah Baumgartner.

𝐃𝐮 𝐛𝐢𝐬𝐭 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐚𝐥𝐥𝐞𝐢𝐧! ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt