𝐃𝐮 𝐛𝐢𝐬𝐭 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐚𝐥𝐥𝐞𝐢𝐧! ✔️

Zukunftsträume - Lillys Sicht

,,Verrätst du mir, wo wir hinfahren werden?'', frage ich Noah, als wir nach einem wunderschönen Tag an unserem Waldsee wieder im Auto sitzen.

,,Das wird eine Überraschung'', verkündet Noah schmunzelnd.

Etwa zwanzig Minuten später stehen wir an einem Parkplatz. Noah greift nach meiner Hand und wir laufen einen Schotterweg entlang. Je näher wir uns unserem Zielort kommen, desto mehr wird mir klar, was Noah für uns heute Abend geplant hat.

Wir stehen vor einem Restaurant mit Seeblick. Als wir eintreten, begrüßt uns der Kellner und bringt uns an einen Tisch draußen auf der Terrasse. Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr raus.

Auf dem blauen Wasser kann man einige bunte Boote sehen und am Himmel hat die Sonne bereits eine rötliche Farbe angenommen. Es weht ein leichter Wind, doch dieser ist sehr angenehm. Noah und ich bestellen uns zwei Colas und stoßen an.

,,Ich könnte mich glatt an solche Tage gewöhnen'', sage ich lächelnd und nehme einen großen Schluck von meinem Getränk.

,,Ich auch.''

Noah lehnt sich auf seinem Stuhl lässig zurück und genießt genauso wie ich die beruhigende Atmosphäre.

,,Ich glaube, ich war in meinem Leben noch nie so glücklich'', gestehe ich ihm irgendwann. ,,Das weißt du wahrscheinlich schon längst, aber ich bin nicht unbedingt jemand, dem es leicht fällt, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen. Und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum nur wenig Leute etwas mit mir zu tun haben wollen.''

,,Lilly.'' Noah greift fast wie selbstverständlich nach meiner Hand. ,,Weißt du, im Leben kommt es nicht darauf an, ob du viele Freunde hast oder besonders beliebt bist. Es ist doch viel wichtiger, dass du Personen um dich hast, denen du dich vollkommen anvertrauen kannst und die immer für dich da sind. Ohne dich wäre ich mir dessen gar nicht bewusst gewesen.''

Vielleicht sehe ich mich  ja eines Tages so, wie Noah mich sieht. Vielleicht glaube ich irgendwann an all die schönen Worte, die er für mich übrig hat. Er kann mir meine eigenen Selbstzweifel nicht nehmen, das weiß ich.

Am Ende liegt es an mir, ob ich mich selbst lieben kann. Noah kann lediglich probieren, mir zu vermitteln, wie er mich wahrnimmt. Wir nehmen uns die Speisekarte zur Hand und suchen etwas zum Essen aus. Ich entscheide mich für ein Pilzrisotto und Noah für einen Burger.

,,Ich weiß nicht, was die Zukunft für uns bereit hält. Aber ich hoffe, dass es eine sein wird, in der wir beide glücklich sind'', wünscht sich Noah.

,,Gibt es einen Traum, den du dir unbedingt erfüllen möchtest?'', frage ich neugierig nach.

,,Ich würde gerne mal in die USA Reisen und mir dort ein Auto mieten. Ich würde die Westküste entlangfahren. Es gibt doch nichts schöneres als Strand und traumhafte Berge.''
Ich stelle mir gedanklich vor, wie wir beide in einem Auto sitzen und am Highway entlangfahren. Wie wir in den Bergen wandern und von ganz oben aufs Tal herunterblicken. Wie wir unsere Füße im Sand haben und dann lachend ins kalte Meer rennen.

,,Behalte dir diesen Traum unbedingt bei. Vielleicht kannst du ihn dir ja eines Tages erfüllen'', rate ich ihm.

Träume sind etwas Wunderbares. Sie erinnern uns daran, dass alles auf dieser Welt möglich ist. Sie verdeutlichen uns, dass wir es selbst in der Hand haben, wie wir unsere Zukunft gestalten. Das Leben ist ein ungeschriebenes Buch. Es liegt an uns, den Stift in die Hand zu nehmen und unsere Geschichte aufzuschreiben.

,,Wie siehst es mit dir aus? Hast du einen speziellen Traum, den du für dich gerne verwirklichen würdest?''

Auf Noahs Frage hin grüble ich kurz. Ich muss an das kleine Mädchen zurückdenken, das so oft in der Nacht geweint hat, weil sie ihren Vater unheimlich vermisst hat. An das Mädchen, das sich nie anmerken ließ, wie schlimm es für sie war, allein zu sein.

Es hatte seine Gefühle hinter einer dicken Maske versteckt, hinter die vor Noah noch kein Mensch geblickt hat. Für sie ist viel zu lange niemand dagewesen. Trauer fühlt sich weniger schlimm an, wenn man sie mit jemanden teilt. Ich würde gerne diesem Mädchen etwas zurückgeben und ihr zeigen, wie stolz ich auf sie bin. Eventuell könnte ich das, indem ich Kindern, die ähnliches erleben haben, helfen würde.

Keine Ahnung, ob ich eine gute Therapeutin wäre, aber es wäre eine Aufgabe für mich, in der ich ganz viel Lebenssinn sehe. Wir alle brauchen doch jemanden, der einem mal einfach nur zuhört.

,,Es gäbe tatsächlich einen Traum, den ich habe. Ich wäre gerne Therapeutin für die Kinder, die einen geliebten Menschen verloren haben. Ich würde ihnen so gerne einen Weg zeigen, wie sie lernen können, mit diesem Verlust umzugehen.''

Der beeindruckte Blick von Noah lässt mein Herz höherschlagen.

,,Hat dich deine Mutter zur Therapie geschickt, nachdem du deinen Vater verloren hast?''

Ich schüttle den Kopf.

,,Ich habe mich wie alle anderen Kinder in meinem Alter benommen. Es gab von ihrer Seite aus also keinen Grund, warum ich einen Therapeuten gebraucht hätte. Die meisten Eltern denken vermutlich erst daran, wenn das Verhalten des Sohnes oder der Tochter besonders auffällt. Wenn die Noten in der Schule schlechter werden, zum Beispiel. Meine Mutter hat früher mit mir nie offen über meinen Vater gesprochen. Und das ist auch völlig okay. Manche möchten eben die eigenen Gefühle mit sich selbst ausmachen und nicht darüber reden. Ich hätte trotzdem jemanden gebraucht, der mit mir darüber spricht, weil es meine Mutter mit mir nicht getan hat. Eventuell wäre ein Therapeut also etwas ziemlich Gutes gewesen. Haben dich deine Eltern zur Therapie geschickt?''

,,Nein, es ist nie auf ihrem Radar gewesen, weil sie beide keinen Grund sehen, warum man zu einem Therapeuten gehen sollte. Wie viele andere auch denken sie, dass das völliger Schwachsinn ist. Doch das stimmt nicht. Ich glaube, dass es sehr vielen Menschen helfen kann. Man ist nicht schwach, wenn man sich professionelle Hilfe sucht. Gerade bei Eltern, die nicht über das verstorbene Familienmitglied sprechen möchten, sollten sich überlegen, ob eine Therapie für sie selbst oder für das Kind sinnvoll wäre.''

Wir werden in unserem Gespräch unterbrochen, als der Kellner mit unserem Essen kommt. Hungrig greifen wir nach unseren Gabeln und Messern und machen uns über unser Essen her.

Es schmeckt so gut, dass ich kurz die Augen zumachen muss, um mich voll und ganz auf die Geschmacksexplosion einzulassen.

***

,,Das war ein wirklich schönes Date, Noah Baumgartner'', sage ich strahlend, als wir beide vor meiner Haustür stehen.

,,Ich bin ganz deiner Meinung, Lilly Schilling.'' In Noahs Augen ist ein Leuchten zu erkennen. Insgesamt wirkt er rundum zufrieden und ich bin es ebenso. Ich strecke meine Arme nach ihm aus und verwickle ihn in eine innige Umarmung. Am liebsten möchte ich ihn gar nicht mehr loslassen. Wie schön wäre es, wenn wir so die ganze Zeit über dastehen könnten. ,,Es gibt noch etwas, das ich dich fragen möchte'', bricht Noah die Stille. ,,Ich will mehr als nur mit dir befreundet sein, Lilly. Ich möchte dich hiermit fragen, ob du meine feste Freundin sein willst.''

Meine Empfindungen sind in diesem Moment kaum in Worte zu fassen. Natürlich möchte ich offiziell mit ihm zusammen sein! Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als Noah Baumgartner meinen Freund nennen zu dürfen.

Und weil ich nicht weiß, wohin mit all meinen Glücksgefühlen, verschränke ich meine Hände in Noahs Nacken und vereine unsere Lippen miteinander.

Obwohl wir uns zweimal geküsst haben, fühlt es sich genauso großartig an wie beim ersten Mal. Ich versuche jede Sekunde davon in meinem Gedächtnis abzuspeichern, um mich daran erinnern zu können, wie sich anfühlt, von jemanden geliebt und begehrt zu werden. Ich kann hören, wie er aufstöhnt, als ich mit meiner Zunge seinen Mund erkunde.

Indem ich Noah durch die Haare fahre, fordere ich ihn instinktiv auf, den Kuss zu vertiefen. Mein Körper ist damit beschäftig, ihn spüren zu lassen, wie viel er mir bedeutet. Viel zu bald müssen wir voneinander ablassen, weil wir beide Luft zum Atmen brauchen.

,,Ja, ich wäre sehr gerne deine feste Freundin, Noah'', stelle ich klar und strahle bei diesem Satz sowohl von innen als auch außen.