Tiefpunkt - Noahs Sicht

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Lilly spricht mich am Tag darauf nicht in der Schule an. Und das macht mich mehr als unruhig.

Bereut sie es etwa unseren Tag am See?

Allein die Vorstellung versetzt meinem Herzen einen großen Stich.

Mag sie mich etwa nicht auf die gleiche Weise, wie ich sie?

So viele Fragen, die ich mir selbst nicht beantworten kann, schwirren in meinem Kopf herum. In der Schule kann ich mich gar nicht richtig konzentrieren, weil all meine Gedanken bei Lilly sind. Sie ist die erste Person, die mir das Gefühl gegeben hat, dass ihr etwas bedeute und ich mein wahres Ich nicht zu verstecken brauche.

Wenn selbst sie nichts mehr mit mir zu tun haben möchte, heißt das, dass ich nicht liebenswert bin?

Bin ich zu gebrochen, um überhaupt von jemandem geliebt zu werden?

Ich möchte so nicht denken, doch meine eigenen Selbstzweifel reden mir genau das ein. Kein Mensch dieser Welt kann Noah Baumgartner jemals wirklich lieben. Ich werde immer davon geprägt sein, dass ich meine kleine Schwester viel zu früh verloren habe. Es wird stets ein großes Loch in meinem Herzen existieren, das nicht geflickt werden kann. Es ist nicht gerecht, dass ich am Morgen aufstehen und einen weiteren Tag erleben darf und Antonia nicht. Sie hat es nicht verdient, dass sie so früh von dieser Welt gehen musste.

Sie hätte noch so viele Orte sehen und noch so viel mehr Erfahrungen machen sollen. Wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, hätte ich Antonia mein Leben geschenkt. Ich bin ihr großer Bruder gewesen. Es ist damit meine Aufgabe, sie vor allem Schaden zu schützen! Vielleicht hätte ich ihren Tod verhindern können, wenn ich am Abend in ihr Zimmer gegangen wäre und nach ihr geschaut hätte! Ich hätte früher den Krankenwagen anrufen können und die Ärzte hätten sie noch rechtzeitig retten können.

Jedes weitere Jahr ohne Antonia fühlt sich nicht richtig an. Es erinnert mich daran, dass sie nicht mehr hier ist. Dass ich auf ganzer Linie versagt habe, weil ich ihren Tod nicht verhindert habe. Ich weiß nicht, was ich gegen dieses Schuldgefühl tun kann und ob es jemals weggehen wird. Meine Eltern scheinen ihren Frieden mit dieser Situation gefunden zu haben.

Keine Ahnung, ob sie in mir Antonia sehen, wenn sie mir ins Gesicht blicken. Wir beide haben die gleichen eisblauen Augen und blondes Haar. Es steht ein Fotoalbum bei uns im Wohnzimmer, wo sie Bilder von mir und Antonia eingeklebt haben. Mittlerweile ist es etwas angestaubt, weil es niemand mehr aufschlägt. Antonias ganze Sachen haben sie auf einem Flohmarkt verkauft. Wahrscheinlich reißt die Erinnerung an sie erneut die klaffende Wunde auf, so wie bei mir. Sie haben nie danach gefragt, wie ich mich mit der ganzen Situation fühle.

Vielleicht ist es auch besser so. Schließlich ist es leichter, sich einzureden, dass es dem großen Bruder gutgeht. Dass er weitermacht und nicht an dem Verlust zerbrochen ist. Es ist schon hart genug, sein eigenes Kind verloren zu haben. Der Abschied ist noch viel schwerer, wenn man sich auf diesen nicht vorbereiten konnte.

***

Ich bin wie immer allein, als ich das Haus betrete. Ich gehe zur Küche, um mir ein Bier zu holen und setze mich auf die Couch. Mit Alkohol kann man wenigsten für eine Zeitlang die eigenen, bedrückenden Gedanken loswerden. Das ist auch der Grund, warum ich gerne auf Partys gehe. Ich will einfach für eine kurze Zeit vergessen und nicht an meine Vergangenheit erinnert werden. Ich weiß, dass das ganze schon 6 Jahre her ist. Doch selbst heute noch wache ich in Schweiß gebadet in meinem Bett auf, weil ich davon träume, wie ich verzweifelt Antonias toten Körper schüttle. Ich sehe Ma schreien und weinen und meinen Dad, wie er aus dem Zimmer rennt, um den Notruf zu wählen. Selbst vor dem Schlafengehen ist das eine Erinnerung, die sich in mein Unterbewusstsein bahnt.

𝐃𝐮 𝐛𝐢𝐬𝐭 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐚𝐥𝐥𝐞𝐢𝐧! ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt