Ich habe über Noahs Worte nun einige Tage nachgedacht. Wenn ich weiterhin mit ihm befreundet sein möchte, muss ich noch einmal mit meiner Mutter sprechen und ihr klarmachen, dass das nicht so geht. Ich alleine entscheide, mit welchen Menschen ich Kontakt haben möchte. Ich muss ihr verständlich machen, dass sie mich ab und zu stark unter Druck setzt und das tut mir nicht gut. So kann es nicht mehr weitergehen. Am Wochenende fasse ich mir ein Herz und laufe zu ihr ins Büro, wo sie gerade am Computer sitzt und arbeitet.
,,Hallo, mein Schatz'', grüßt sie mich, als sie meine Schritte hört.
,,Hättest du etwas Zeit für mich? Ich möchte mit dir über etwas sprechen, Mama'', beginne ich vorsichtig.
,,Klar, was ist los?'',
Mama blickt nun von ihrem Laptop auf und sieht mich an.
,,Können wir dafür in mein Zimmer gehen?'', bitte ich sie.
Sie nickt sofort und folgt mir in mein Reich, wo wir uns beide auf mein Bett setzen. Ich versuche an die motivierenden Worte zu denken, die Noah in seinem Text für mich übrig hatte.
Ich kann das!
Ich kann das!
Ich kann das!
Ich wiederhole einige Male wie ein Mantra dieselben Worte. Ich schaffe das.
,,Ich möchte weiterhin mit Noah befreundet sein, Mama. Er ist anders, als du denkst, glaube mir. Er meint es gut mit mir und hat für unser Projekt in der Schule einen wundervollen Text über mich vorgetragen. Wir haben als Gruppe eine 1 bekommen. Und selbst wenn wir eine schlechtere Note bekommen hätten, es hätte für mich keine Rolle gespielt. Wir haben unser Bestes gegeben und ich habe davon genug ...''
Mitten im Satz stoppe ich mich selbst, weil sich ein großer Kloß in meinem Hals breit macht. Das, was ich ihr gerade klarmachen möchte, hat schon viel zu lange in mir geschlummert. Es muss einfach raus, ich kann es nicht mehr nur für mich behalten.
,,Ich habe genug davon, mich immer deiner Erwartungshaltung anpassen zu müssen. Ich gebe mir Mühe für die Schule, weil ich weiß, dass das wichtig für meine Zukunft ist. Dessen bin ich mir völlig bewusst. Aber ich kann nicht mehr so weitermachen. Ich habe Angst vor jeder Arbeit, weil ich befürchte, zu versagen und du mich hinterher dafür anschreien wirst. Ich lerne jeden Tag bis spät in die Nacht, weil ich Angst habe, dass du mir vorwerfen könntest, mich nicht genügend für die Schule anzustrengen. Ich kriege Bauchschmerzen, bei dem Gedanken, dir eine Arbeit zeigen zu müssen, bei der ich nicht mindestens eine Zwei geschrieben habe. Mich macht das Ganze völlig fertig. So kann es nicht weitergehen, Mama.''
Ich merke erst, dass ich angefangen habe zu heulen, als ich eine Träne auf meiner Wange spüre. Ich kann nicht mehr reden, weil der einzige Laut, den ich herausbringe, ein hörbares Schluchzen ist. Ich spüre eine große Schwere auf meine Brust, die unangenehm drückt und nur durch noch mehr Weinen etwas verschwindet. Ich nehme nur nebenbei wahr, dass meine Mama die Arme nach mir ausgestreckt hat und mich an ihren Oberkörper drückt.
,,Lilly, mein Schatz'', höre ich sie leise flüstern. Und dann spüre ich etwas Nasses hinten auf meinem Pulli. Mir wird klar, dass das nicht meine, sondern Mamas Tränen sind. Ihre linke Hand streicht behutsam über mein Haar.
,,Ich wollte dir niemals das Gefühl geben, dass ich dich nicht lieben werde, wenn du mal schlechte Noten mit nach Hause bringst. Mein Wunsch ist einfach, dass du dich anstrengst und dir Mühe gibst. Mehr verlange ich doch gar nicht. Es tut mir so leid, dass du dich durch mich so unter Druck gesetzt fühlst.''
Jetzt kann sie auch nicht mehr sprechen. Wir beide halten uns einfach in den Armen und lassen unseren Emotionen freien Lauf. Wir genießen die Nähe zueinander und sind in diesem Moment das Mutter und Tochter-Gespann, das existiert hat, bevor mein Vater diese Welt verlassen hat. So viele Jahre ist es schon her, dass mir meine Mama diese Wärme geschenkt hat. Ich möchte nicht, dass dieser Augenblick jemals endet, weil es so guttut, von ihr umarmt zu werden. Ich habe das Gefühl von menschlicher Nähe unterschätzt. Nur durch Noah weiß ich, dass sie das zerbrochene Herz ein Stück heilen kann. Sie kann einem etwas von der Last auf den eigenen Schultern nehmen und einen stärken.
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𝐃𝐮 𝐛𝐢𝐬𝐭 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐚𝐥𝐥𝐞𝐢𝐧! ✔️
Teen Fiction,,Heilung ist kein gerader Weg, Lilly. Auch ich habe immer noch schlechte Tage. Aber selbst die Sonne wird manchmal von dunklen Wolken verdeckt, doch das nimmt ihr nichts von ihrem strahlenden Licht." In den stillen Schatten ihrer Vergangenheit verb...