Gefangen

Kapitel 1

Gedankenverloren sitze ich hier auf dem Boden, zwischen zahlreichen Umzugskartons, in meiner neuen Wohnung in Berlin und krame in alten Sachen. Durch Zufall fällt mir dieses Klassenfoto der sechsten Jahrgangsstufe in die Hände. Diese Zeit war der Anfang meiner wilden Laufbahn. Warum wollte ich damals unbedingt zu den It-Girls gehören? Seufzend lege ich es zurück in die Umzugskiste. Keine Frage, ich gehörte seit damals zu den Bad Girls. Partys, Schlägereien, Drogen - das alles endete letztendlich in unzähligen Problemen. So kommt es schließlich dazu, dass ich hier ein neues Leben beginne, weit weg von meinem alten Zuhause.

„Du sitzt ja immer noch hier rum. Wenn du dich nicht beeilst, kommst du zu spät zu deinem ersten Arbeitstag", reißt mich meine jahrelange beste Freundin Lily Wagner mit ihren Worten aus meinen Gedanken.
Sie war schon immer der einzige Mensch auf dieser Welt, dem ich wirklich vertrauen konnte. Als sie von meinen Schwierigkeiten erfuhr, hat sie mir sofort angeboten gemeinsam mit ihr in Berlin neu anzufangen. Sie vermietet mir dieses Zimmer und hat mir den Job in einer Bar besorgt. Nicht irgendeine Bar, sie ist gleichermaßen edel als auch verrucht. Der Verdienst dort ist mehr als beträchtlich, was auch dringend nötig ist, um die Untermiete für dieses schicke WG-Zimmer zu bezahlen, das sich im Zentrum von Berlin befindet.
Wir teilen dieselbe Lebenseinstellung. Es ist, als wäre sie mein Spiegelbild, das immer ausspricht, was ich denke. Dabei ist sie mindestens genauso verrückt wie ich, nur dass ihr Vorstrafenregister im Gegensatz zu meinem keine Einträge besitzt. Auch unsere Freizeitaktivitäten, wenn man Boxen denn so nennen kann, ergänzen sich perfekt. Sicherlich hätte ich eine Wahnsinnsfigur bei dem täglichen Training, doch mein größeres Hobby sind Süßigkeiten, weshalb mir leider ein Sixpack verwehrt bleibt.
Meine Augen weiten sich schreckhaft, als ich auf die Uhr schaue. Während ich ins Bad stürme, rufe ich ihr zu: „Bin gleich fertig!"
Schleunigst trete ich vor den Spiegel und lege Make-up auf. Meine smaragdgrünen Augen betone ich mit Smokey Eyes und style meine taillenlangen Haare, die ich im Balayage-Look gefärbt trage. Mein Haaransatz ist mittelbraun und verläuft zu den Haarspitzen ins Goldbraun. Als Letztes ziehe ich mein knielanges schwarzes Kleid an, welches durch den hautengen Schnitt genau die richtigen Stellen betont. Dazu noch die passenden schwarzen High Heels. Bereit zum Gehen, stolziere ich damit zurück in mein Zimmer, um meine Handtasche zu holen. „Fertig! Wir können los!"
Lily steht bereits grinsend und perfekt gestylt im Türrahmen. Sie trägt einen ziemlich kurzen schwarzen Lederrock mit perfekt dazu passenden farbigen High Heels. Dazu eine schicke, eng anliegende weiße Bluse, deren V-Ausschnitt ihre Brüste in Szene setzt. Ihre meerblauen Augen hat sie mit Braun- und Bronzetönen betont und ihre glatten, honigblonden Haare hängen ihr locker über die Schulter. Sie schwingt ein Päckchen zwischen ihren Fingerspitzen, dessen Inhalt ganz sicher Speed ist. „Lass uns auf der Arbeit ein wenig Spaß haben."
„Süße, wir müssen das auf später verschieben, zumindest an meinem ersten Arbeitstag sollte ich bei klarem Verstand sein", schmolle ich vor mich hin, während Lily sich im Schneidersitz vor den Glastisch setzt und sich mit ihrer Kreditkarte eine Line legt. Anschließend rollt sie einen Hundert-Euro-Schein, um das weiße Pulver durch die Nase zu ziehen.
„Lass uns gehen", verkündet sie mit einem tränenden Auge. Man sieht ihr an, dass dieses Zeug höllisch in der Nase brennt. Schnaubend laufe ich in Richtung Haustür. Hätte ich nicht dieses nervige Vorstellungsgespräch, würde ich sicher in alte Gewohnheiten verfallen und ebenso das Hoch einer Line genießen.