Das Unheil beginnt

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Aber fangen wir doch noch ein Stück weiter vorne an. Etwa einen Monat. Warum? Weil an diesem Abend ein Umzugskarton vor Roberts Haustür stand. Verpackt und zugeklebt, wie ein Packet und eindeutig an ihn adressiert. Seine antrainierte Skepsis hatte sich gemeldet doch als er den Namen des Absenders las, verpuffte diese wie eine Seifenblase. Annika Lee, seine aller erste beste Freundin. Er konnte sich nicht gegen das Grinsen wehren, dass sich auf seine Züge zwang als er an ihre gemeinsame Zeit dachte. Sie hatten gut zueinander gepasst und fast wäre aus ihnen auch ein Pärchen geworden. Allerdings hatten beide nach ihrer ersten und einzigen gemeinsamen Nacht die Erkenntnis, dass Annika lieber eine Frau als Partnerin wollte und Roberts Interesse sich mehr dem eigenen Geschlecht widmete. Und dann war sie verschwunden. Er wusste noch, wie sie sich voneinander verabschiedet hatten. Sie wollte über die Sommerferien mit ihren Eltern nach Europa und hatte versprochen für ihn ein Bild aus Deutschland mitzubringen. Aber sie war niemals wieder gekommen. Es gab keine Informationen über das Verschwinden ihrer Familie, keine Briefe und keine Erklärungen. Und nun stand nach Jahrzehnten dieser Karton vor seiner Tür mit einem Lebenszeichen.

Schwer atmend stellte Bob das Paket auf seinen kleinen Couchtisch ab. Egal was da drinnen war, es war schwer. Vorsichtig schnitt er den oberen Teil des Kantons auf und klappte die Pappe zur Seite. Eine Menge Polsterung und Verpackungen und ganz obendrauf ein Fotoalbum und ein Brief. Unschlüssig sah er auf seine Uhr. Es war schon spät und morgen hatte er eine Zwischenprüfung aber das hier war der erste Hinweis seit einer sehr langen Zeit. Entschlossen nahm er den Brief und schnitt ihn umsichtig auf.

Hallo Robert,

ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll oder ob du das hier überhaupt lesen wirst. Es tut mir leid. Ich konnte mich nicht früher bei dir melden. Es ging nicht.

Damals, als ich und meine Eltern losgefahren sind zum Flughafen, da dachte ich es geht nach Europa. Aber wir flogen ans andere Ende der Staaten. Nach unserer Ankunft haben sie mir das neue Haus gezeigt, meine neue Schule und mir erklärt, dass das mein neues Leben ist. Warum? Weil sie uns trennen wollten. Ich bin damals schwanger gewesen und als ich es meinen Eltern mitteilte, hatte ich ihre Unterstützung. Ich habe ihnen nie gesagt, dass du der Vater bist. Du solltest es als erstes erfahren. Ich wollte es dir sagen, sobald ich wieder zurückgekommen wäre. Doch meine Eltern war es peinlich, dass ich so jung bereits schwanger geworden war und haben mich gezwungen alle Kontakte abzubrechen. Es war manchmal unerträglich. Nur unser kleiner Sonnenschein konnte mich zum Lächeln bringen. Unsere Tochter ist jetzt 21 und ich glaube, dass meine Reise hier enden wird. Mein Arzt hat bei mir einen Tumor gefunden. Er ist bereits eng verwoben mit dem umliegenden Gewebe, sodass eine OP aussichtslos ist. Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch lebe, wenn du diesen Brief hier bekommst aber ich will, dass du weißt, dass ich dich nie vergessen habe Robert. Maria wird das Haus meiner Eltern in Miramar überschrieben und ich wünsche mir, dass du ein Auge auf sie haben wirst. In ihrer Geburtsurkunde ist kein Vater eingetragen und ich habe ihr nie die ganze Wahrheit erzählt. Ich habe ihr ein Bild von dir gezeigt, von unseren Abenteuern erzählt und gelogen, dass du im Einsatz gefallen bist. Vielleicht werde ich im Angesicht des Todes den Mut finden und ihr die Wahrheit sagen können.

Halte mich in guter Erinnerung Robby (Ihr ungeliebter Spitzname für ihn)

Annika

Dass er weinte bemerkte Bob erst, als die ersten Tränen mit einem dumpfen Geräusch auf das Papier trafen. Er hatte ihr so viel zu sagen. Wie konnte er rausfinden, ob sie noch lebte? Verdammt, er hatte eine Tochter, die dachte, dass er tot sei. Er hatte alles verpasst. Die ersten Worte, die ersten Schritte und das ganze verdammte Leben. Es war zu spät, um sich durch das Einwohnermeldeamt zu telefonieren oder sich nach der Adresse auf dem Paket zu erkundigen. Das würde er morgen nach seiner Prüfung machen müssen.

Fahrig wischte er sich die Tränen von den Wangen und legte den Brief zur Seite. In dieser Nacht kam er nicht dazu zu schlafen. Er sah sich das Fotoalbum an, indem viele Bilder aus Marias Leben waren. Er sah sie ersten Bilder seiner Tochter als Kleinkind, Schulkind, Teenie und junge Erwachsene. Dazu kamen weitere Sachen aus dem Karton. Einige ihrer gemalten Bilder als Kind, wo sie versucht hatte ihren Vater zu malen und zu verarbeiten, dass er nie da sein würde. Ein Kuscheltier, dass er von einem der Babyfotos wieder erkannte. Die Geburtsurkunde und ein Bild von Annika und ihm. Wieder trieb es ihm die Tränen in die Augen. Es war das einzige physische Andenken was er von ihr hatte.

Das er die Prüfung am nächsten Tag nur grade so bestand, beachtete er nicht weiter. Weil ihnen nach der Prüfung Freizeit eingetragen war, beschäftigte er sich intensiv mit der Recherche zu seiner Familie. Er fand heraus, dass Annika bereits zwei Tage vor der Ankunft des Pakets verstorben war. Er würde gerne auf ihre Beerdigung gehen aber die Angst dort unerwünscht zu sein hielt ihn dort wo er war.

In den folgenden Tagen war er dann immer wieder an dem Haus vorbeigelaufen, in dem Annika aufgewachsen war. Morgens auf dem Weg zur Arbeit und abends, wenn er wieder nach Hause ging. Erst hatte er nichts beobachten können. Dann sah er einen Umzugswagen, Handwerker und Gärtner. In der Garage stand ein Auto und Leben kehrte in das Haus ein. Einmal hatte er sie gesehen, sein Kind. Sie trug Einkäufe nach Hause und er hatte nicht den Mut gefunden sie anzusprechen. Zudem hatte er darauf geachtet, dass sie ihn nicht bemerkte. Gab es einen richtigen Zeitpunkt für ein Gespräch? Wenn ja, wie sollte er das herausfinden? Bisher hatte er keine zufriedenstellende Antwort gefunden und so ging er immer wieder an ihrem Haus vorbei und hoffte einen kurzen Blick auf die Frau erhaschen zu können.

Erstens kommt es anders / Top GunWo Geschichten leben. Entdecke jetzt