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Es regnete. Ich schaute aus dem Fenster meines Zimmers und mich erfuhr ein Hauch von Geborgenheit. Ich fühlte mich nicht gut. Dieses stetige allein sein machte mich wahnsinnig. Ich schloss meine schwere Holztür auf und sah mich um. Niemand war in meiner Nähe. Ich konnte gehen. In der Küche bereitete ich mir mein Mittag zu und verschlang es anschließend nahezu. Ich erschrak als ich meine Mutter die Tür hereinkommen sah. „Hallo Lis. Kann ich dir behilflich sein?" Schroff antwortete ich nein, stand auf und räumte meinen Teller beiseite. „Ich nehme dir das ab. Kann ich vielleicht etwas anderes für dich tun?" Erschöpft und überzeugt davon, dass ich meinen Teller sonst nicht los werde, ließ ich ihn stehen und ging in mein Zimmer. Als meine Tür in Schloss fiel, lief mir eine Träne über die Wange. Wie sehr ich meine Mutter vermisste. Wie sehr ich es vermisste, mit ihr in einem Raum zu sitzen und zu schweigen. Dass sie sich einmal die Frage Kann ich dir helfen? sparen würde, ein Traum, der nie in Erfüllung gehen würde.
Ich setzte mich in den uralten braunen Ledersessel meiner Oma und las mein Buch weiter. Eigentlich war es dumm, so viel Zeit des Lebens mit Warten zu verschlagen, aber ich wusste einfach, dass alles, was ich tun würde zwecklos wäre. Warum musste ich so allein in dieser Welt sein? Es regnete in Strömen, doch ich beschloss, meine hellgrüne Regenjacke zu nehmen, mir warme Stiefel anzuziehen und eine Runde durch den Park zu machen. Schon einige Minuten, nachdem ich das Haus verlassen hatte, war ich klitschnass. Meine Regenjacke hatte schnell ihren Geist aufgegeben, aber es hinderte mich nicht daran, trotzdem durch den Park zu laufen. Mittlerweile konnte ich meine Gänsehaut an meiner Jacke spüren und zog meine Schultern bis unter meinen Kopf hoch. Ich lauschte den verschiedenen Geräuschen, das Plätschern des Regens und das Rascheln der Blätter erinnerten wieder einmal, wie kalt und gnadenlos der Herbst doch war und obwohl es gar nicht so leise war, fühlte ich mich, als wäre ich der einzige Mensch auf Erden. Ich schaute auf eine Hecke. Eher gesagt, auf mich schaute jemand aus einer Hecke. Sie lag in der Nähe des Stadtgrabens, noch aus dem Mittelalter, früher wurden dort die Fäkalien eingelassen, heute ist er ein schöner Bach. Was ich sah, war ein kleiner Kopf. Vorsichtig, in langsamen Schritten näherte ich mich dem kleinen Geschöpf, ehe ich sehen konnte, was es war. Ein kleiner Welpe hatte sich anscheinend verlaufen. Er trug ein Halsband, in das ein Name eingraviert war. Langsam versuchte ich ihm näher zu kommen, um vielleicht die Buchstaben entziffern zu können. Ich streckte meine Hand langsam in Richtung seines nassen Fells, doch kurz bevor ich ihn hätte streicheln können, schrie mich eine junge männliche Stimme hinter mir an. „Lassen Sie meinen Köter gefälligst in Ruhe! Ich will ihre Hilfe nicht!" Erschrocken wich ich zurück und entschuldigte mich perplex bei dem Mann. „Ich wusste nicht, dass Sie in der Nähe sind. Tut mir leid, Sir." Ich stand auf drehte mich zu dem Mann. Jetzt erst sah ich sein Gesicht. Es war vernarbt, aber sehr jung. Die pechschwarzen Augen des Mannes fielen mir besonders auf. Das Gesicht kam mir auf eine beängstigende Weise bekannt vor, aber ich konnte gerade nicht weiter darüber nachdenken. Stattdessen lief ich stumm an ihm vorbei, immer noch ein wenig erschrocken und folgte dem kleinen Schotterweg. „Hey!", ertönte die Stimme hinter mir nun. Wie erstarrt blieb ich stehen und überlegte, ob ich jetzt weiterlaufen sollte, weil ich mit keiner anderen Frage als Kann ich dir zufällig behilflich sein? gerechnet habe. Ich entschied mich, mich umzudrehen. Der Mann kam mir vorher schon so bekannt vor und aus irgendeinem Grund war ich interessiert an ihm. „Ja?", fragte ich, noch während ich mich umdrehte. „Wer bist du?" Er war eindeutig merkwürdig. „Warum ist das wichtig?", ich traute ihm nicht über den Weg. Er war mysteriös. Mir fiel auf, dass er den Hund nun angeleint hatte. Er rollte mit den Augen und antwortete anschließend entnervt: „Weil du nicht von der Welle erwischt wurdest." Mein Atem stockte. „Wie bitte? Was?" „Du hast es nicht. Diesen permanenten Drang zu helfen." Ich fühlte mich ertappt. Andererseits war ich mir nicht sicher, ob ich es nicht hatte, denn schließlich merkte meine Mutter auch keine Veränderung. Der Mann machte mir Angst. Er machte einige Schritte auf mein versteinertes Ich zu und bat mich, ihm zu folgen. Ich hatte Angst. „Wo würde er mit mir hingehen wollen?", fragte ich mich selbst, bevor ich es ihn fragte. „An einen Ort, wo es nicht so nass ist. Komm jetzt." Er war so direkt, wie ich es schon lange von einem Menschen vermisste, was mich so neugierig machte, dass ich ihm am liebsten einen Roman an Fragen gestellt hätte. Trotzdem blieb ich vorsichtig und verneinte seine Aufforderung. „Gut, wenn du meinst. Aber glaube mir, wenn nicht du etwas tust, dann wird die ganze Welt leiden, Lousia. Aber wir sehen uns.", dabei zwinkerte er mit einem Auge. Mir lief ein Schauder über den Rücken als er meinen Namen sagte. Er konnte ihn doch gar nicht gewusst haben. Außerdem hatte ich überhaupt keine Lust, ihn jemals wiederzusehen, wie der Typ mir Angst einjagte! Schnell drehte ich mich um und lief zurück nach Hause. Immer wieder schaute ich über meine rechte Schulter, um zu sehen, ob der junge Mann mir gefolgt war. In meinem Kopf brannte sich sein Gesicht ein. Die riesige Narbe, die durch sein ganzes Gesicht gezogen war, ließ mich auf dem Heimweg nicht mehr los. Ich wollte wissen, wie es dazu kam. Ich wollte wissen, warum er sich so sicher war, dass wir uns Wiedersehen werden. Ich wollte wissen, woher er meinen Namen kannte und warum er mich nicht gefragt hatte, ob er mir helfen kann. Ich war total irritiert von der ganzen Situation.
Als ich nun am späten Nachmittag die alte braune Holztür mit dem Kachelfenster zum Treppenhaus öffnete, stach mir der Geruch von gekochtem Auflauf in die Nase und ich lief hoch in unsere Wohnung. An der Türschwelle unserer Küche blieb ich stehen und beobachtete meine Mutter eine Weile dabei, wie sie das Essen liebevoll zubereitete. Ich hatte sie gestern darum gebeten, mir mein Lieblingsessen zu kochen, und wie sie nun einmal alles für mich tat, hatte sie dies natürlich auch getan. Ich zog meine Stiefel und meine durchnässte Regenjacke aus und schlich leise in mein Zimmer. Dort wechselte ich die nassen Klamotten in ein Joggingoutfit um, rubbelte mit einem Handtuch meine blonden Wellen trocken und wartete, bis das Essen vollständig zubereitet war. Ich hätte meine Mutter gerne bei der Arbeit unterstützt, aber sobald ich den Raum betreten hatte, wurde mir förmlich verboten etwas zu tun, dass mich nicht überglücklich macht. Also wartete ich. Ich nahm mein Handy in die Hand und scrollte durch die neusten News. Es ging um eine neue Hilfsorganisation, für Kinder in unserer Stadt. Natürlich würde jeder dorthin zahlen. Schließlich halfen alle. Alle bis auf ich. Niemand war mir aber jemals böse deswegen. Sie wollten mir lediglich helfen, helfen zu können. „Wie Riley meine Welt zerstört hatte. Wie Riley aller Welt zerstört hatte. Mit einer so bösen Absicht hatte er es geschafft. Und dann war er so feige gewesen und brachte sich um.", sagte ein Teenager meines Alters bei einem Interview in einem Nachrichtenportal. Sie trug einen komischen hellblauen Anzug, mit einem sonderbaren Schriftzeichen. Ich war erstaunt und überlegte, wem sie mit dieser Aussage hatte helfen können oder eher gesagt, helfen wollen. Ich hatte aber, genauso wie die Person, der dieses Mädchen „half" auch einen riesigen Hass auf George Riley. Ich gab dem Mädchen recht. Er hat alles zerstört. Er hat die Menschen zu den harmlosesten Monstern gemacht, er hat ihre Gehirne ausgeschaltet und war so klug einem Hoffnung zu geben, in dem er Weltfrieden schwor. Nur hat er nicht für Weltfrieden gesorgt, sondern für einen Kampf unter jedem einzelnen Menschen, mit der Sucht, am meisten zu helfen. Wenn sie dem nicht nachkommen können, würden sie schmerzen erleiden.
Zahlreiche Videos von gequälten Menschen hatte ich mir angeschaut, Dokumentationen und Aufnahmen der blauen Welle, von dem Ministerium höchstpersönlich, doch welchen Medien sollte man schon glauben, in der Welt konnte man niemandem glauben.
Wütend legte ich mein Handy beiseite. Ich könnte jetzt nun auch nichts mehr an den Zuständen ändern. Da klopfte meine Mutter an meiner Zimmertür. Ich öffnete und sie stand mit einem hübsch servierten Tablett vor mir. „Wo möchtest du essen?" Ich überlegte kurz, aber ich wurde beim Überlegen unterbrochen, als meine Mutter mir schon die nächste Frage stellte: „Kann ich dir helfen, die Entscheidung zu treffen?" „Äh, nein danke. Ich nehme es einfach und du würdest mir eine große Hilfe sein, wenn du mich etwas allein lässt.", sagte ich monoton. Dann ging sie. Schließlich dachte sie, dass sie mir so helfen würde. Eigentlich hätte ich sie gerne bei mir gehabt. Am liebsten hätte ich sie gefragt, was ich jetzt tun sollte, aber das konnte ich nicht. Wenn sie mir bei etwas nicht helfen konnte, würde ich es mir nie verzeihen, dass sie Schmerzen erleiden musste, aber wie gesagt, welchen Medien kann ich schon noch glauben?
Ich setzte mich in den Salon und aß mein Essen. Meine Mutter hatte ihre Kochkünste mal wieder übertroffen. Das Gericht schmeckte köstlich. Ich brachte meinen Teller heimlich in die Küche und wusch ihn ab. Dann legte ich mich erschöpft von den Eindrücken im Park ins Bett und schlief ein.

ORIGANUM- Die blaue Welle (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt