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Das rote Ultimatum ist nicht etwa in George Riley, es ist in dir. In mir. Es ist dieser Zwang, den wir bereit sind zu unterdrücken, weil wir die Welt zu einem besseren Ort machen wollen. Es ist der Zwang, den wir nicht fühlen, weil wir das Ultimatum sind.

Gespannt las ich die ersten Zeilen des Buchs und mein Staunen wurde immer größer. Hier war die Antwort auf die Frage, die ich mir die ganze Zeit stellte. Der Zwang, den ich nicht besaß oder der Zwang, den ich bereit war zu unterdrücken war es, zu helfen. Ich dachte nie, dass ich das Wort „Hilfe" irgendwann einmal so sehr hassen würde. Und aus dieser ganzen Helferei brauchte man einfach Hilfe, ohne Hilfe zu erhalten, was es alles so kompliziert machte.

Ich packte meinen Koffer, auf dem ebenfalls groß und golden ORIGANUM prangte. Als wir zum Flughafen gelangten wurden uns Plätze in der ersten Reihe zugewiesen. Die ganze Zeit wurden wir von Managern, Bodyguards und Soldaten mit großen Gewähren begleitet. Ich wusste vom Ernst der Lage. Und als ich vor dem Flugzeug stand erinnerte ich mich an meinen ersten Flug. Vor zehn Jahren war er gewesen. Ich war sechs. Meine Mutter, mein Vater und ich flogen in die Karibik. Es war bestimmt der schönste Moment, den ich mit meinem Vater hatte. Ich war Teil einer perfekten Familie. Und jetzt sah ich an mir herab. In einem Kampfanzug, die Haare zurückgebunden, ausgestattet mit High-Tech und einer Pistole. Ich habe nie eine Pistole vorher in der Hand gehabt und die einzige Person, die ich damit umbringen wollen würde, war George Riley. Neben mir stand Belinda, ebenfalls so fokussiert wie ich. Wir müssten jetzt so aufpassen. Aufpassen, dass ihr nicht aus Versehen sterben. Und heimlich hatte ich das Buch über das rote Ultimatum eingesteckt und war sicher die einzige, die wusste, dass es da noch etwas gab. In uns.

NEW YORK———————

Da waren wir in New York. Irgendwann, so hatte ich es mir vorgenommen, wollte ich mal den Times Square hinunter spazieren und im Central Park essen. Doch das würde gewiss nicht passieren. Ich schaute aus dem kleinen Fenster des Flugzeugs auf die Freiheitsstatue. Ja, da war es, der Staat mit „Freiheit". Doch es war alles andere als das. London übernahm als höchstes Ministerium die Weltherrschaft und entschied über sozusagen alles. Nirgends war noch jemand frei. Wir fuhren mit einem kleinen Bus zum Central Park. Als ich aus dem Fenster des Busses sah, sah ich die Laternen flackern. Alles war so grau und leblos. Man merkte, dass dieser Ort nicht der gleiche wie vorher war. Hier wirkte etwas, dass ich spüren konnte, und es war nichts Gutes. In der Dämmerung erschienen alle Bäume gräulich und warfen große dunkele Mondschatten auf den durchnässten und unebenen Weg über den wir fuhren. Als der Bus stoppte, konnte man ein Gittertor erkennen, an das M. Rodd eine Chipkarte hielt. Das Tor öffnete sich und große rote Alarmleuchten lösten aus. Mir fiel auf, dass keine Menschenseele in der Nähe war. Ich konnte jetzt aber keine Fragen stellen. Ich sollte mir besser Fluchtwege einprägen. Wir wurden an einem großen betonierten Gebäudekomplex hereingebeten und stellten uns in Zweier-Reihen auf. Ich nahm Belindas Hand und spürte, dass sie zitterte und kalt war. Ich strich ihr über den Handrücken und als Belinda zurückstrich durchströmte mich ein Gefühl von Wärme. Es zog durch all meine Adern und ich hatte das Verlangen, mich an sie zu schmiegen.
Als einer der Soldaten zu uns kam, ließen wir unsere Hände voneinander los. Er gab uns Chipkarten und jedem einen Karton, der ziemlich eng gefüllt war. Dann sagte er eine Nummer, die wir uns merken sollten. MSE 3. Wir waren der dritte Versuch und hieß es nicht, dass jeder dritte Versuch ein Erfolg werden würde? Ich hoffte. Als wir dann das Gebäude tiefer betraten sollten wir unsere Armbanduhren und Waffen auf einen Tisch legen. Es war wie bei der Flugzeugkontrolle gewesen. Nur, dass wir die Waffen nicht wiederbekamen. Und so ehrlich wie ich war, hätte ich gerne meine Waffe behalten. Das Gebäude war kalt eingerichtet. Keine Bilder waren an den Wänden. Der Boden war aus kaltgrauen Fliesen und die Wände schlichtweg Betonwände. Es fühlte sich an wie in einem Bunker. Als würden wir diesen Schutz durch dicke Betonwände benötigen und ohne sie sterben und wie in Staub zerfallen. Alle Leute, die dort arbeiteten, trugen andere Anzüge. Sie waren entweder in Soldatenuniformen oder höherrangig, sodass sie in schwarzen Anzügen herumliefen. Und ich konnte keine Frau unter den Mitarbeitern erkennen.
Wir gelangen in kleine Zweier-Zimmer, an denen immer ein Badezimmer angeschlossen war. Auch diese Zimmer waren kühl eingerichtet und es mangelte an allem Wohnlichem, was man sich hätte erträumen können. Ich konnte mich nicht einmal über eine Bettdecke freuen. Wir bekamen Militärschlafsäcke gestellt und schliefen in Etagenbetten, dessen Matratze so hart wie der Boden war. An unseren Fenstern war ein Stacheldrahtzaun angerichtet und davor noch Gitterstäbe. Als ich mit Belinda in diesem engen Raum stand fühlte es sich an, wie in einem Gefängnis. Es war beengend und beängstigend. Ich stellte den Karton ab und öffnete ihn. Darin waren mehr Uniformen, allerdings graue und es stand London darauf. Ebenso war ein Bauplan des Gebäudes und eine Karte von New York darin. Ich sah mir die Karte genau an und schaute auf die farbig eingezeichneten Kreise, die um den Central Park Tower herum gezeichnet waren. Der Central Park Tower war nur 600 Meter von unserem Lager entfernt, was mir jetzt bewusst machte, warum wir hier so geschützt sein mussten. Wenn wir wirklich dieses Serum auslösen sollen und Riley noch lebte, dann würde er bereits davon wissen. Er kann sich so viele Anhänger nehmen wie er braucht. Jeder wird ihm helfen wollen. Ich sah Belinda an. Sie stand mir gegenüber und eine Träne rollte ihr über die Wange. „Ich will das alles nicht Lousia. Ich hab Angst." „Ich weiß. Ich will das auch nicht." Mehr konnte ich nicht tun oder sagen. Ich konnte ihr die Angst nicht nehmen, ich konnte ihr das hier alles nicht ersparen. Das tat mir leid. „Belinda. Erzähl doch mal was von dir. Ich weiß so gut wie gar nichts über dein Leben.", sagte ich, in der Hoffnung, dass sie mir vertraute. „Naja, es ist nicht ganz so einfach, alles zu erklären." Wir setzten uns auf das untere Bett. „ Ich war acht, so wie du als es geschah. Es ist schlimm, dass wir unser halbes Leben unter diesen Umständen leben. Ich kann aber von ganz vorne anfangen." Ich nickte und Belinda begann, mir ihre Geschichte zu erzählen.
„Ich wurde am 20.08.2093 geboren. Als Belinda Sophie Millers kam ich in Nottingham auf die Welt." „Warte.. heißt das, dass du gestern 16 wurdest und du es niemandem gesagt hast?" „Ja. Heute ist der 21.08.2109. Ich hatte gestern Geburtstag, aber ich konnte nun wirklich nicht daran denken zu feiern, bei diesen Verhältnissen. Das Letzte mal, dass ich meinen Geburtstag gefeiert habe, ist tatsächlich zehn Jahre her." „Warum? Ich meine, ich kann verstehen, dass man sich allein gefühlt hat, aber bis ich zwölf war, hat meine Mutter immer eine Geburtstagsfeier für mich organisiert. Es war zwar nicht so, wie vor der Welle, aber es war trotzdem schön." „Ich weiß.", sagte Belinda traurig und wurde immer stiller. „Ist alles in Ordnung?", fragte ich vorsichtig. „Lass es einfach. Manche Dinge sind noch komplizierter als ORIGANUM und das ist mein Leben, Louisa. Mein Bruder starb als ich vier war neben mir in einem Kinderbett ganz plötzlich. Meine Mutter bekam Depressionen und trank nur noch Alkohol. Mein Vater hatte einen Business-Beruf und musste teilweise auf Dienstreise gehen, also gab es Zeiten, da war ich komplett auf mich allein gestellt. Ich bin alleine groß geworden. Irgendwann nahm sich meine Mutter das Leben und mein Vater war nicht da. Ich sah nur das ganze Blut auf dem Boden und das Messer in ihrer Kehle stecken. Und ich versuchte ihr das Leben zu retten, aber ich konnte nicht. Ich habe verdammt nochmal zwei Menschen vor meinen Augen sterben sehen. Ich hatte nie die Gelegenheit meinen Geburtstag, so etwas erbärmlich oberflächliches zu feiern. Louisa, werde erwachsen und sieh, was dir das Leben bringt. Es bringt dir eines ganz gewiss und das ist der Tod." Belinda hatte mir die Sprache verschlagen. Ich dachte immer, ich hätte das schlimme Leben mit einem Vater, der Soldat ist und für das Ministerium arbeitete und sich dann gegen Riley stellte und untertauchte, aber ich war privilegiert. Ich bin ziemlich normal aufgewachsen, ich hatte immer meine Mutter und war nie so allein, dass es für mich normal war. „Das wusste ich nicht und es tut mir so leid, dass ich verlangt habe, deine Geschichte zu hören." Belinda sah mich mit ihren karamellfarbenden Augen an und die Tränen flossen über ihre Wangen. Ich nahm sie in den Arm und wir hielten uns lange so. Ihre Tränen drangen sanft in den Stoff meiner Uniform ein und ich dachte darüber nach, dass ihre Gefühle nun auf meine Haut gedrungen waren. Jetzt waren wir uns so nahe, wie ich es lange niemandem mehr war.
Als sich Belinda aus meiner Umarmung löste, schaute ich sie an. Sie schaute mich an. Zwischen uns war eine Stille. Ich schaute auf ihre Lippen. Mein Herz raste und mich erfuhr stetig ein Hauch Aufregung. Belinda nahm meine Hände in ihre und strich mir über den Handrücken. Als sie aufstehen wollte, zog ich sie an mich heran und legte meine Lippen auf ihre.

ORIGANUM- Die blaue Welle (pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt