| 25 | 𝐌𝐢𝐥𝐞𝐬

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Ich musste meine Augen nicht öffnen, um zu wissen, dass Matt direkt vor mir stand. Seine Hände hatte er auf meine Schultern gelegt und sacht schüttelte er mich durch.

„Miles, was ist los? Alles in Ordnung?" Seine Stimme sollte vielleicht beruhigend klingen, doch die Sorge, die bereits in ihr mitschwamm, erkannte ich nur zu deutlich. Dennoch klang sie seltsam entfernt. Als wäre ich in einer anderen Welt. Als würde ich träumen. Ich nahm seine Berührung nicht mehr direkt wahr.

Panisch schnappte ich nach Luft, nicht wissend wie lange ich sie angehalten hatte, und riss im selben Moment die Augen auf.

Matts bernsteinfarbene Augen tauchten verschwommen vor meinem Gesicht auf und angestrengt blinzelte ich die kleinen Sternchen weg. Schwarze und weiße Punkten schmückten mein Sichtfeld und wage nahm ich Ryan wahr, der vom Sofa aufgestanden war und unruhig zu uns kam. Besorgt streckte er ebenfalls seine Hand nach mir aus, doch ich wich zurück. Mir war alles zu viel. Ihre Nähe. Ihre Stimmen. Und ihre Berührungen.

„Miles?"

„Lasst mich", verlangte ich mit brüchiger Stimme und machte demonstrativ einen weiteren Schritt nach hinten.

Die neue Wohnung fühlte sich ungewohnt fremd an. Kalt und einsam. Ich gab ihr nicht die Schuld an meinem Ausbruch, aber sie machte es auch nicht gerade besser. Die offenen Räume boten mir keinen Schutz. Ich fühlte mich ausgeliefert, wem auch immer, und beobachtet. Es war kein Zuhause und auch, wenn ich im Moment nicht rational denken konnte, so wusste ich eins, ich würde mich hier nicht wohl und heimisch fühlen. Ich konnte hier nicht ankommen.

Vielleicht war es auch meine maßlose Überforderung mit allem, die dafür sorgte, dass ich nur noch ans Schlechte denken konnte, aber ich realisierte meine Situation so stark wie lange nicht mehr.

Und jetzt prasselte alles auf mich ein.

Blut. Dunkle Straßen. Sirenen. Ich hatte den Tod meiner Eltern bisher verdrängt. Das war nicht die beste Lösung, ich wusste das, und hatte dennoch nichts anderes getan. Ich konnte ihre Gräber nicht besuchen. Mein eigentliches Zuhause wurde mir entrissen. Mein bester Freund und Bruder ebenfalls. Und das einzige Familienmitglied, welches ich noch hatte, schmiss mich raus, zu Recht.

Meine Sicht verblasste immer mehr. Meine Mitbewohner hatte ich schon lange ausgeblendet. Starr sah ich auf den großen Flachbildfernseher, den Ryan geklaut hatte, und musste immer zu an die verhängnisvolle Nacht denken, die mir alles genommen hatte.

Und selbst mein Leben in San Diego war ein einziges Chaos.

Verzweifelnd und in Selbstmitleid ertrinkend schnappte ich erneut nach Luft. Dennoch hatte ich das Gefühl zu ersticken. Orientierungslos drehte ich den Kopf zur Seite. Ich fühlte mich zunehmend benommen, nicht richtig im Hier und Jetzt. Nur am Rand meines Bewusstseins bemerkte ich die aufgewühlten Stimmen um mich herum und, dass Jackson den Raum wieder betrat.

Ich schwankte.

Dann spürte ich starke Arme um mich. Sie hielten mich fest, drückten mich an einen größeren Körper, der mir irgendwo Sicherheit vermittelte. Mein Kopf wurde nach oben gedrückt und graugrüne Augen sahen mir besorgt entgegen. Kaum mehr aufrechtstehend hechelte ich weiter nach Sauerstoff, glaubte zu ersticken und versuchte das Dröhnen in meinem Kopf zu ignorieren.

„Miles, hörst du mich?" War das Jackson? „Du hast eine Panikattacke, du erstickst nicht! Du musst nur ruhig atmen."

Doch ich hörte nicht mehr zu. Die Last und Verantwortung war einfach zu groß, die Welle schwappte über mir zusammen. Meine Knie fühlten sich weich an, mir war unglaublich heiß und mich verließen plötzlich sämtliche Kräfte. Als würde mein Kreislauf in den Keller sacken. Kraftlos fiel ich gegen den Körper vor mir und wurde nur noch von dessen Armen oben gehalten. Dabei verdrehte sich mein Hals durch die Haltung schmerzhaft und meine Augen waren nur noch halb geöffnet.

Ich hörte wieder Stimmen, konnte sie aber nicht zuordnen.

Das Gefühl zu ersticken nahm ab, eine unfassbare Ruhe umhüllte mich. Ich war von einem Moment auf den anderen völlig entspannt. Ich hatte keine Kraft mehr Panik zu schieben. Erschöpft krampfte mein Körper und mein Brustkorb noch etwas, doch ich ignorierte es. Ignorierte alles. Ich war nicht mehr Herr meines Körpers und meiner Sinne.

Ein Ruck ging durch meinen Körper als ich unvermittelt hochgehoben wurde und den Kontakt mit dem Boden verlor.

Meine Sicht verschwamm nun komplett durch die schnelle Drehbewegung und letztlich gab ich auf. Ich gab mich der Schwere hin, schloss meine Augen und kämpfte nicht länger gegen meine Gefühle an. Gegen meine Emotionen. Irgendwann musste es mal raus und auch, wenn das Motorradfahren bislang immer ein gutes Ventil war, so wusste ich, dass ich dringend mit jemand reden musste. Sonst würde ich irgendwann zerbrechen.

Nur bedeutete das, dass ich mich jemanden anvertrauen musste. Alles anvertrauen.

„Was ist mit ihm?", glaubte ich Matt zu hören.

Dann wurde ich abgelegt, langsam und vorsichtig. Weicher Stoff schmiegte sich gegen meinen Rücken. Eine Hand fuhr mir über die Stirn, durch meine Haare und verweilte kurz dort.

„Ich weiß es nicht genau, aber sieht nach einer Panikattacke aus."

„Was sollen wir machen?"

Ein Seufzen entwich mir, die Hitze war unerträglich und müde rollte mein Kopf zur Seite, so, dass meine Wange den unangenehmen Stoff des Sofas berührte. Die Hand, die mir eine wohltuende Kühle bescherte, noch immer auf meiner Stirn. Sie strich meine Locken zurück und entfernte sich schließlich. Frustriert zog ich die Augenbrauen zusammen.

Schritte entfernten sich und einen Moment später spürte ich eine Hand an meinem Hinterkopf. Sie stützte ihn und etwas Nasses stupste gegen meine Lippen. Murrend öffnete ich meine Augen einen Spalt.

„Du solltest etwas trinken", wies Jackson an, den ich unscharf erkennen konnte.

Ich spürte den nagenden Durst erst als das kühle Wasser meine Zunge berührte und meinen Hals hinunterglitt, der schrecklich ausgetrocknet war. Dann ließ ich mich zurück aufs Sofa sinken. Und wie ich die Augen schloss, schlich sich ein Grinsen auf mein Gesicht. Ich war hier vielleicht nicht zuhause und hatte im Leben schon viel verloren, aber auch viel gewonnen.

So kriminell die Hydra auch war, sie waren für mich in der kurzen Zeit zu einer Familie geworden, die sich um mich kümmerte.

Jemand hob meine Beine an und legte sie auf die Sofalehne. Ein komisches Gefühl. Nur konnte ich eh nichts dagegen tun. Ich atmete tief durch, spürte wie ich zunehmend schwächer wurde. Als hätte jemand meinen Körper ausgeschaltet und nun müsste er wieder aufladen.

„Schlaf etwas." Endlich konnte ich loslassen.

RIDERS ~ Lost MemoriesWo Geschichten leben. Entdecke jetzt