14. Leiser Abschied

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Es regnete am Tag von Jennifers Abreise. Ein schwerer Dunst lag über dem kleinen Dorf und schirmte es wie eine große Glocke von der Außenwelt ab. Den ganzen Tag fielen schwere Tropfen vom Himmel und eine melancholische Stimmung senkte sich ganz automatisch auf Jennifer herab. Auch wenn nur wenige Minuten des Tages den Platz in ihrer Erinnerung fand, so prägte sich ihr das Wetter ein. Sie saß am Fenster und hatte es Stunden lang studiert. So lange, bis die Dämmerung wie ein schwerer Vorhang den Trübsinn des Tages verschleierte und Jennifers Aufregung nur noch steigerte.

Sie erinnerte sich an den Wind, der wehte und die Wipfel der Bäume nach Norden bog, der die Wolken wie Schafe vor sich hertrieb, aber dennoch den Regenschauer nicht zu stoppen vermochte. Mit der Dämmerung zog der Nebel auf und hüllte alles in seine graue Watte ein. Hätte sie damals gewusst, dass die Elfen dieses Werk vollbracht hatten, hätte es ihr sicher Angst eingejagt.

Der Tag war ruhig gewesen, ruhig und einsam. Bloß am Nachmittag, da klingelte es an der Tür und ihr Großvater stand davor. Die wenigen Schritte durch den Regen, von seinem alten, klapprigen Golf bis zur Haustür, hatten seine Haare und seinen Mantel bereits durchnässt. Mit einem traurigen Lächeln und ohne ein Wort ließ Jennifer ihn nach drinnen und sie saßen lange schweigsam am Küchentisch. Sie kochte Tee und hielt ihre Tasse die ganze Zeit über fest umklammert. Ihr Großvater klammerte sich dabei an die alte Routine und zählte noch einmal die wichtigsten Punkte ihres Trainings auf, doch Jennifer konnte die Worte kaum aufnehmen. Er schien es zu bemerken und nahm irgendwann ihre Hand.

„Hör mir zu, Jennifer. Wir haben getan, was getan werden konnte. Du bist bereit, auch wenn es sich für dich vielleicht jetzt noch nicht danach anfühlt. Lege deine Ängste ab und geh. Sieh dir alles an, erlebe die Wunder, nimm dein Schicksal selbst in die Hand. Und dann, wenn du genug gesehen hast, komm uns besuchen. Oder komm zu uns zurück." Eine Träne lief über ihre Wange, als Großvater fertig gesprochen hatte.

„Der Schritt ist so groß!", sagte sie zu ihm, versuchte all ihre Angst in einem Satz auszudrücken.

„Sicher ist er das. Aber sieh dir an, was deine Großmutter getan hat. Sie hat ihr Leben in Weltenende abgebrochen und ist ohne Familie, ohne Freunde und ohne einen Weg zurück in diese Welt gegangen. Und niemals hat sie es bereut." Jennifer seufzte. „Dir steht nun ein anderes Abenteuer bevor, aber immer bleibt dir der Weg zurück!" Er streichelte über ihre Wange, wischte die Träne fort. Dann standen beide auf und er nahm sie in den Arm.

Lange standen sie in der kleinen Küche. Sie sog seinen gewohnten Geruch auf, vergrub ihre Nase in seinem Holzfällerhemd. Hielt sich an ihm fest. Doch dann war der Abschied da, noch bevor sie bereit dazu war. Er löste sich aus ihrer Umarmung, führte sie zur Haustür und küsste sie ein letztes Mal auf die Stirn.

„Lebe wohl, mein Kind. Vergiss niemals, dass in deiner Brust das Herz deiner Großmutter schlägt. Es gibt dir alle Kraft, die du brauchst. Und vergiss nicht, ihren Ring zu tragen. Das Buch lass hier, niemand soll erfahren, was du weißt." Dann schloss er die schwere Holztür und ließ sie im dunklen Hausflur zurück. Schnell trat sie ans Küchenfenster und sah, wie er durch den Regen davonfuhr.

So gerne sie es auch verhindert hätte, so unweigerlich kam der Abend näher und mit dem Abend die Nacht. Jennifer verbrachte die Zeit fernab ihrer Eltern in ihrem verschlossenen Zimmer. Sie sah der Dämmerung beim Einzug zu und sortierte Kleider. Sie packte sie ein und aus. Und ein. Und aus. Nicht sicher, was sie benötigen würde. War in der anderen Welt gerade Sommer oder Winter? Sie machte sich viel zu wenige Gedanken über ihr neues Leben, da sie viel zu große Angst hatte, ihr altes aufzugeben. Sie war noch nicht bereit für den nächsten Schritt, doch sie konnte sich ihm nicht entziehen. Die Zeit rann ihr unweigerlich davon, wie Sand durch die Finger.

Und so stand Mitternacht vor der Tür, noch bevor sie es erwartet und erhofft hatte. Die wenigen Dinge, die sie schließlich zusammengepackt hatte, stopfte sie in einen Rucksack. Neben ihren Kleidern hatte sie einige Fotos und Erinnerungen eingepackt, ihren Reisepass (man wusste ja nie), sowie zwei Kreditkarten, die ihr ihr Großvater gegeben hatte. Sie zog eine dunkle Jeans, ein schwarzes Hoodie und eine dunkle Regenjacke über. Den Ring ihrer Großmutter steckte sie an ihre rechte Hand. Vorsichtig machte sie ihr Bett und legte den Briefumschlag mit dem Abschiedsbrief auf ihr Kopfkissen.

Weltenende: Die verlorene PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt