16. Von alten und neuen Prinzessinnen

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Evîher hatte sich zunächst um die Pferde gekümmert, nachdem sich Ghenéwer schlafen gelegt hatte. Er hatte ihnen das Zaumzeug und die Sattel abgenommen, sie auf Verletzungen kontrolliert und ihnen schließlich für einige Momente das seidige Fell gekrault. Währenddessen war Lhunîa drei Runden um das Lager gegangen und hatte in leiser, melodischer Stimme die magischen Zeilen gesprochen, die sie vor Eindringlingen schützen würden. Uralte Zauber, die nur noch wenige von ihnen beherrschten, aber die Lhunîa meisterte. Einer der Gründe, warum sie Evîher auf diese Reise begleitete.

Nachdem sie zu ihm zurückgekehrt war, setzten sich beide ins noch immer nebelfeuchte Gras und aßen schweigsam ein kleines, spärliches Frühstück. Dann legte sich auch Lhunîa schlafen und Evîher übernahm die erste Wache. Lhunîa würde ihn nach einer Weile ablösen, aber die Prinzessin würden sie so lange schlafen lassen, wie nur möglich. Sie musste ihr Kräfte schonen, denn sie hatten eine lange und gefährliche Reise vor sich. Viel gefährlicher, als sie sich vermutlich vorstellen konnte. Doch Evîher kannte die Gefahren, nicht umsonst hatte man ihn zu ihrem Begleiter ernannt. Er würde sie beschützen, mit seinem Leben verteidigen, wenn nötig.

Müde lehnte er sich an den Baum und beobachtet die Sonne, während sie am Himmel immer höher kletterte. Erst schienen ihre Strahlen nur durch die umliegenden Bäume, die die Lichtung umrandeten. Dann erhob sie sich über die Baumkronen und erwärmte seine vor Müdigkeit kalt gewordenen Glieder. Sie schien ihm direkt ins Gesicht und er schloss die Augen, um ihre Wärme zu genießen und in sich aufzusaugen.

Ab und an wanderte sein Blick zu Lhunîa und zur Prinzessin, die beide ruhig schliefen. Er musterte die Prinzessin etwas genauer, wie sie so im Schatten lag. Sie war keinesfalls eine typische Elfe, so viel war offensichtlich. Er hatte es bereits gewusst, als sein erster Blick auf sie gefallen war. Als sie sich verängstigt gegen einen Busch gelehnt hatte, beinahe so, als wollte sie darin verschwinden. Ihre Nase war ein wenig zu breit, ihr Gesicht ein wenig zu rund, außerdem hatte sie jede Menge Sommersprossen im Gesicht. Und sie bewegte sich noch zu sehr wie ein Mensch, selbst im Schlaf. Dann und wann zuckte Ghenéwer zusammen, reckte sich und drehte sich, doch sie wachte nie auf.

Evîher wandte seinen Blick wieder ab, ließ ihn am Rande der Lichtung entlangschweifen und hob ihn schließlich wieder zu Sonne, die ihn mit ihrer Wärme wachhielt. So lange, bis Lhunîa ihn schließlich ablösen würde. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Lhunîa sich aufrichtete, durch ihr Haar fuhr und sich aufrecht im Schneidersitz neben ihn setzte.

„Bist du erholt und bei Kräften?", fragte er und blickte sie kurz an. Lhunîa nickte.

„Ja. Der Boden wird immer bequemer, je länger wir ihn als Schlafstätte nutzen, meinst du nicht auch?" Er schmunzelte. Bett oder Boden, es war ihm egal. Hauptsache, er konnte schlafen.

„In der Tat." Lhunîa ertappte ihn dabei, wie er seinen Blick ein weiteres Mal in Ghenéwers Richtung schweifen ließ.

„Was denkst du über sie?", fragte sie, mit Vorsicht in der Stimme. Er zuckte mit den Schultern.

„Sie ist ein Mädchen, wie es scheint. Denn eine Elfe ist sie nicht."

„Da hast du wohl recht."

„Sie muss noch einiges lernen. Auf unserer Reise und danach auf dem Schloss. Sie muss abhärten, lernen stark zu sein." Lhunîa nickte zustimmend und Evîher hob schnuppernd seine Nase. „Noch immer riecht sie nach Tränen. Die ganze Nacht habe ich den Geruch nicht aus meiner Nase bekommen."

„Wenn sie die Gene ihrer Großmutter in sich trägt, wird sie schnell lernen."

„Hoffentlich." Lhunîa zuckte mit den Schultern.

„Wir kennen sie noch nicht. Es ist töricht, so früh über sie zu urteilen. Womöglich ist sie bereits stark, nur nicht gewohnt, es zu zeigen." Evîher seufzte, erhob sich aus seiner Position, die er für Stunden nicht verlassen hatte und nickte Lhunîa zu.

„So oder so. Ich muss schlafen. Weck mich bei Sonnenuntergang, du kannst die Pferde schon satteln. Wir werden augenblicklich weiterreiten." Er sah aus dem Augenwinkel, wie sie nickte und legte sich auf seinen Mantel unter einen Baum. Doch bevor er sich dem erholsamen Schlaf hingab, warf er einen letzten Blick auf die schlafende Prinzessin. Und auf das Gesicht, das ihm so fremd und so vertraut zugleich war.

Er würde sie hüten, wie ein kostbarer Schatz. Ganz so, wie er es dem König geschworen hatte.

Weltenende: Die verlorene PrinzessinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt