Kapitel 4 - Solang Sie Atemt

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Ich blieb stehen, ein paar Schritte vom Auto entfernt.

Mein Vater saß vor dem Eingang auf der Bank, zusammengesunken, den Blick auf den Asphalt gerichtet. Seine Schultern wirkten schmaler als sonst, die Hände gefaltet, als würde er versuchen, sich selbst festzuhalten.

Er sah nicht auf.
Und ich... konnte nicht sofort zu ihm gehen.

Ich war leer.
Mein Körper funktionierte nur noch aus Gewohnheit.
Die Nacht hatte keine Ruhe gebracht, keinen Schlaf. Nur Bilder. Schatten. Seine Stimme.
Der Wolf - nein, der Mann, die Gestalt - er war immer noch da. In meinem Kopf. In meiner Brust.
Und mit jedem Schritt, den ich machte, fühlte ich ihn näher, als wäre er nie wirklich verschwunden.

Ich wollte schreien. Weinen. Schlafen. Irgendwas fühlen, das sich nicht anfühlte wie zerrissen werden.

Aber ich durfte nicht.

Mein Vater trug genug.
Ich durfte nicht schwanken. Nicht vor ihm.
Nicht jetzt.

Also hob ich die Tasche mit den frischen Sachen, zwang mich zur Ruhe und ging langsam zu ihm.

Er bemerkte mich erst, als mein Schatten ihn berührte.

Langsam hob er den Kopf.
Sein Blick war müde, gerötet, tief eingesunken - und als er mich ansah, zuckte kurz etwas in seinem Gesicht.
Ein Versuch zu lächeln vielleicht. Oder ein kurzes Erkennen, dass ich überhaupt noch da war.

Ich reichte ihm die Tasche.

„Ich... hab sie eingepackt."

Er nahm sie entgegen, ohne ein Wort, nur mit einem Nicken.
Ein Nicken, das sich schwerer anfühlte als alles, was ich heute tragen musste.

Dann sagte er leise, rau:

„Sie ist noch da."

Ein Kloß schob sich in meinen Hals. Ich nickte ebenfalls, weil ich nichts sagen konnte.

Seine Augen sahen mich an. Ruhig, aber durchdringend.

„Du solltest kurz zu ihr. Aber... sei bereit."

Ich nickte erneut, mit einem Lächeln, das nicht bis zu den Augen reichte.
Nicht weil ich stark war.
Sondern weil ich wollte, dass er es denkt.

Dann wandte ich mich ab, ging zur Tür und trat hinein -
ins Licht der Neonröhren
und in die schmerzhafte Stille,
in der Hoffnung flackert wie eine schwache Flamme im Wind.

...

Der Flur war leer.

Nur das gedämpfte Summen der Leuchtstoffröhren über mir, das Klacken meiner Schritte auf dem Linoleumboden, und irgendwo das Piepen eines Monitors, das in regelmäßigen Abständen an etwas erinnerte, das man nicht vergessen konnte: Zeit.

Jede Tür sah gleich aus.
Aber ich wusste, welche ihre war.

Ich blieb kurz davor stehen.
Mein Handrücken lag auf der Klinke.
Ich atmete ein. Aus. Wieder ein. Es half nicht.

Dann drückte ich die Tür auf.

Drinnen war es still.
Zu still.

Das einzige Geräusch kam von dem Überwachungsgerät neben dem Bett - ein dünner Ton in gleichmäßigen Abständen, jedes Mal ein Beweis, dass ihr Herz noch schlug.

Meine Schwester lag da. Blass. Fremd. Fast durchsichtig.

Ihr Gesicht war eingefallen, die Lippen spröde, das Haar stumpf und durcheinander.
Ihr ganzer Körper schien kleiner, schwächer. Wie unter einer unsichtbaren Last zusammengefallen.

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