Kapitel 1

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Ava Kingsley sah dabei zu, wie der Wind die bräunlichen Blätter vom Baum vor dem Fenster riss und durch die Luft wirbelte. Die mausgraue Taube, die auf einem gefährlich dünnen Ast saß, plusterte sich auf, als würde sie sich vor etwas Schlimmerem wappnen. Die Sonne tauchte den Himmel in ein tiefes Kastanienbraun, als sie hinter den Nachbarhäusern den Horizont küsste.

„Und? Wie sieht es aus?", Junipers Stimme war ein sanfter Windhauch, der durch den Raum fegte. Ava löste den Blick von dem Bild, das sich vor dem Fenster abspielte. Ihre Augen hefteten sich auf das Mädchen mit dem flammenden Haar. Juniper stand in der Mitte des Raumes, nur wenige Schritte von dem Wandspiegel entfernt, der in ihrem Zimmer seit beinahe einem Jahrzehnt keine richtige Verwendung mehr fand.

Obwohl sie sich darin nicht mehr sehen konnte, hielt sie an ihm fest, wie eine alte Frau an den von Motten zerfressenen Kleidern in ihrem Schrank, die sie an eine bessere Zeit erinnerten. In Junipers Fall ihre Kindheit, die Zeit vor dem Verlust ihres Augenlichtes, bevor sie innerhalb von einem Wimpernschlag erwachsen geworden war. Weil sie es musste. Schneller als jedes andere Familienmitglied. Zumindest malte sich Ava das aus, wenn sie auf den alten Spiegel blickte. Ihre jüngere Cousine danach zu fragen, wagte sie nicht.

„Du siehst wunderschön aus", Adelaide brachte den Schreibtischstuhl, auf dem sie sich langsam im Kreis gedreht hatte, zum Stehen, um ihre Schwester zu betrachten. Das unerwartete Abbremsen ließ ihr langes, dunkelbraunes Haar wild um ihren Kopf schlagen, bevor es sich in seichten Locken über ihre Schultern ergoss und ihr Gesicht sanft umrahmte. Ihre schmalen Lippen bildeten sich zu einem seligen Lächeln, als sie Juniper musterte: "Das haben Mom und du wirklich gut zusammen ausgesucht."
„Mir wäre es lieber gewesen, dich dabei zu haben", entgegnete Juniper und senkte den Kopf, als würde sie auf ihre verschränkten Hände hinunterblicken.

Ava beobachtete den Austausch ihrer Cousinen. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Die gleiche runde Nase und das gleiche herzförmige Gesicht. Sie waren sich beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten. Doch während Juniper meist einfache Sachen trug und nicht aufzufallen versuchte, besaß Adelaide ein unbestreitbar gutes Modebewusstsein, um das beide Frauen sie in verstohlenen Momenten beneideten. Selbst jetzt sah sie fantastisch aus, obwohl es bereits spät war und Adelaide und Ava sich entschieden hatten in ihre Pyjamas zu schlüpfen.

Adelaide öffnete den Mund, als würde sie nach einer Antwort suchen. Aus dem Augenwinkel warf sie einen verstohlenen Blick zu Ava, der wie ein fester Stich ins Herz war. Der einzige Grund, wieso Adelaide nicht da gewesen war, um ihrer Schwester bei der Auswahl eines Kleides für den Homecoming Ball ihres Abschlussjahres zu helfen, war Ava. Sie schluckte schwer. Sie hatte Adelaide um Verschwiegenheit gebeten. Jeden gegenüber. Selbst Juniper, die für Ava selbst im Laufe der letzten 6 Jahre zu einer Schwester geworden war.

Doch sie wollte Juniper nicht damit belasten. Nicht wenn die Last dessen, was ihr Onkel ihr vor wenigen Monaten eröffnet hatte, so schwer auf ihren Schultern wog. Kaum dachte sie daran, drohte sie das Gewicht der Neuigkeiten, die er ihr an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag überbracht hatte, in die Knie zu zwingen. Obwohl er sie seit sechs Jahren aufzog wie sein eigenes Kind, war Adelaide die Einzige, mit der sie darüber gesprochen hatte, was es jedes Mal mit ihr machte, wenn sie sich an die verheißungsvollen Worte ihres Onkels zurückerinnerte.

Auch jetzt schien sich ihr der Magen wieder umzudrehen, wenn sie nur daran dachte. Während sie allen anderen gegenüber ein unbeeindrucktes Gesicht machte, brachte jedes Wort über das Erbe ihrer Eltern ihr Herz aufs Neue zum Bluten.

Sechs Jahre waren vergangen, seit sie Spring Haven verlassen hatte. Ihr Onkel hatte sie nur schwer auf die Rückbank seines SUVs verfrachten können. Mittlerweile erinnerte sich Ava nur noch verschwommen daran, was er gesagt hatte. Egal, wie sehr sie sich daran zu erinnern versuchte. Es war, als würde man ihren Kopf unter Wasser drücken und sie auffordern zu verstehen, was über der Wasseroberfläche gesprochen wurde.

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