Kapitel 6

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Rufus. Der Name echote in ihrem Kopf. Ihre Kehle war plötzlich staubtrocken und sie hatte das Gefühl, kein Wort herausbringen zu können. Einige Sekunden starrte Ava sie lediglich an. Die Zeit zog sich wie Kaugummi. Sie schluckte schwer, während sich ihr Griff um den Einkaufskorb verstärkte.

Ihm zu schreiben, war ein lächerlicher Reflex gewesen, nachdem sie den Flug gebucht hatte. Obwohl sie den Gedanken daran hierherzukommen zu unterdrücken versucht hatte, war ihr von Anfang an klar gewesen, dass sie es nicht auf ewig vermeiden konnte. Trotzdem hatte es sie wie ein Schlag in die Magengrube getroffen, als sie die Flugtickets in der Hand gehalten hatte.

Kaum hatte sie die Nachricht abgeschickt, hatte sie eine Welle der Raue überkommen. Sechs Jahre hatten sie einander nicht gesehen. Fünf Jahre nicht miteinander gesprochen. Diese Realisation hatte sie hart getroffen.

Früher hatte sie eine tiefe Freundschaft verbunden, von der Ava stets gedacht hatte, sie sei unzertrennlich. Doch nach dem Tod ihrer Eltern war das eines der vielen Dinge gewesen, das sich ebenfalls geändert hatte. Anfangs hatte sie sich bemüht, mit ihm in Kontakt zu bleiben, doch je tiefer sie die Trauer weggeschoben hatte, um sich ihr nicht stellen zu müssen, desto weiter hatte sie auch alles von sich geschoben, das mit ihrer Heimat in Verbindung stand. Aus der Angst heraus, jeder Gedanke an Spring Haven könnte den Käfig, den sie mühsam um den Tod ihrer Eltern errichtet hatte, zerbersten.

Rufus hatte nicht geantwortet und sie hatte es vergessen, als die Vorbereitungen für die Reise Form annahmen. Doch offensichtlich hatte er Cyria davon erzählt. Dabei wusste Ava nicht einmal, wer die Frau war, die dort vor ihr stand. Wieso sollte Rufus ausgerechnet ihr davon erzählen?

„Äh, ja", brachte Ava letztendlich heraus: "Ich schätze, das habe ich wohl."
„Wir dachten, du würdest erst später kommen", mit einer Hand fuhr sie sich durch das schwarze Haar und setzte ein Lächeln auf, das jedoch zögerlicher wirkte als zuvor, als würde sie Avas Anspannung bemerken.

Instinktiv versuchte Ava den verwunderten Ausdruck von ihrem Gesicht zu wischen. Sonderlich gut stellte sie sich dabei nicht. Nicht nur, weil Cyrias Worte ihre Unsicherheit weiter fütterten. Wir. Die drei Buchstaben versetzten ihr einen festen Stich. Was bedeutete das? Wer war Cyria für Rufus?

„Aber es ist ein toller Zufall, dass wir uns hier treffen", fuhr Cyria fort: "Ich bin sicher, dass er sich freuen wird dich zu sehen."
„Er ist hier?"
„Klar ist er hier", Cyrias Lächeln verbreiterte sich: "Er arbeitet hier doch."
„Oh", plötzlich fühlte sich Ava dumm.

Zeit, um im Boden zu versinken, blieb ihr jedoch nicht, denn Cyria fuhr bereits fort: "Du musst doch sowieso zur Kasse, oder?"
Den Blick hielt sie auf den Einkaufskorb in Avas Hand gerichtet, als wollte sie sich versichern es richtig verstanden zu haben. Ava folgte dem Blick und ging die Produkte durch, die sie bereits von ihrer mentalen Liste gestrichen hatte. Tatsächlich fehlte ihr nicht mehr viel. Das Meiste hatte sie im Vorbeigehen hineingelegt, während sie sich in dem Markt zu orientieren versuchte.

„Ja, vermutlich bin ich bald fertig", sie zuckte mit den Schultern, unsicher, worauf die junge Frau vor ihr hinaus wollte.
„Was brauchst du denn noch? Vielleicht kann ich dir helfen", sie schenkte ihr ein freundliches Lächeln: "Der Markt kann manchmal unübersichtlich sein, wenn man sich nicht auskennt und die wahren Schätze sind gut versteckt."

Für einen Moment haderte Ava mit sich. Sie hatte keine Ahnung, wer da vor ihr stand und bisher war Cyria auch nicht mit mehr herausgerückt, als dass sie Rufus kannte. Eine maue Ausbeute. Doch wäre der Schlüssel, um mehr zu erfahren, tatsächlich sich helfen zu lassen. Zumal sie auf diesem Weg vermutlich wirklich schneller war.

„Tatsächlich könnte ich Hilfe gebrauchen", brachte sie nach kurzer Überlegung heraus, bevor sie aufzählte, was sie noch von ihrer Liste streichen musste: "Ich brauche noch Eier, Mehl und Salz."
„Mhm", Cyria ließ den Blick kurz über die Regale wandern, als würde sie sich zu orientieren versuchen, bevor sie nickte: "Das ist ganz einfach. Folg mir einfach. Dank Rufus kenne ich den Laden besser als jeden anderen in der Stadt."
Über die Schulter warf sie Ava einen kurzen Blick zu, bevor sie um eine Ecke bog.

Legends of AlaskaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt