Ava konnte den Blick nicht abwenden. Es begann als sie das Auto vor dem Haus parkte und ihre Augen den Waldrand streiften. Ein stiller Gedanke streifte so sachte über ihren Verstand. Bevor sie ihn ergreifen konnte, hatte ein Windstoß, der ihr blondes Haar aufwirbelte, ihn dahin getragen. Unaufhaltbar davon gewirbelt wie der grüne Ballon, der ihren Händen vor knapp sechs Jahren an der gleichen Stelle entrissen worden war.
Sie schüttelte den Gedanken ab und stieg die Treppen zur Haustür hinauf, während sie den Einkaufsbeutel auf ihrem Arm zu balancieren versuchte. Nachdem sich ihr Weg von Cyrias getrennt hatte, hatte es sie in einen kleinen Hobbyladen gezogen, in dem sie mehr ausgegeben hatte als angepeilt. Genauso schwer fühlte sich ihr Beutel mittlerweile an und sie musste mit den Trägern kämpfen, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, von ihren Schultern zu rutschen, während sie mit dem Türschloss zu Gange war. Sie machte sich eine mentale Notiz, es bei der nächsten Gelegenheit zu ölen.
Vorsichtig stellte sie die Tasche auf dem Küchentresen neben dem Kühlschrank ab und begann die Einkäufe auszuräumen. Während sie das Mehl im Schrank verstaute, fiel ihr Blick in das umliegende Wohnzimmer. Dieses Ziehen in der Magengrube – ihr ständiger Begleiter seit ihrer Ankunft – machte sich bemerkbar, als ihr Blick über die Szenerie glitt. Der Raum sah aus, als hätte ein Tornado des Chaos darüber gewütet.
Auf dem Wohnzimmertisch lag das begonnene Strickmuster, das mit seinen Tiefrot und Sonnengelb in diesem Haus deplatziert wirkte. Der einzige staubfreie Fleck auf dem Sofa erinnerte sie an den Platz, an dem sie sich mit der Wolle in der Hand gesessen hatte, um sich abzulenken. Tief in ihrem Inneren hatte sie gehofft, dass sich ein Gefühl von Zuhause in ihr breit machen würde, wenn sie sich mit etwas Gewohntem beschäftigte. Doch es hatte nichts genützt. Ihre Augen waren immer wieder von den hölzernen Nadeln in ihren Händen zu der Stelle gewandert, an der ihre Tränen auf dem smaragdgrünen Teppich getrocknet waren und die Flusen zusammengeklebten.
In einem Anflug von Wut hatte sie sich die Kopfhörer aus den Ohren gezogen, die Nadeln fallen gelassen und mit aller Kraft am Teppich gezerrt, bis er unter den Beinen des Couchtisches zerrissen war. Nun waren nur noch unter den Tischbeinen, die sie nicht abgehoben bekommen hatte, grüne Überreste zu erkennen. Den Rest hatte sie in die Speisekammer verstaut, als könnte sie damit noch eine Weile so tun, als wäre nichts passiert. Um es zu leugnen, wie sie es tat, seid ihr Onkel sie aus dem Haus geschleift hatte.
Scham überkam sie und sie drehte sich weg. Sie nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, sich auf die verbleibenden Einkäufe zu konzentrieren, doch aus dem Augenwinkel entdeckte sie immer wieder den kahlen Fleck. Deshalb wandte sie den Kopf letztendlich starr auf dem Fenster. Vor ihr tanzen die Baumkronen der alten Tannen am Waldrand im kalten Mittagswind. Ihre Augen hefteten sich darauf, als würde sie etwas zwischen den Bäumen regelrecht hypnotisieren.
Pikes Worte hallten in ihrem Kopf wieder wie ein dumpfes Echo. Hatte ihr Vater tatsächlich so viel Zeit mit irgendwelchen Erforschungen im Wald verbracht, wie Pike behauptete? Ihr fiel kein Grund ein, weshalb Pike sowas einfach behaupten sollte. Doch wie hatte ihr all die Jahre entgehen können, dass ihr Vater offenbar regelmäßig im Ireniac Forest herum gestromert war?
Ihr Blick fiel auf den Ring, der noch immer ihren Finger zierte. Nachdenklich fuhr sie mit der Fingerkuppe über ihren Stein. Dieses Geschenk ihres Vaters war für sie schon immer etwas Besonderes gewesen. Plötzlich betrachtete sie das Schmuckstück allerdings aus völlig neuen Augen. Welche Bedeutung es für ihren Vater gehabt haben könnte, würde sie niemals erfahren. Genauso wie sie auf so viele weitere Fragen, die sie an ihn hatte, niemals eine Antwort erfahren würde. Außer, sie begab sich selbst auf die Suche danach.
Ein ungeheurer Drang nach Antworten schlug die Zähne tief in ihr Fleisch und zerrte an ihr. Zerrte sie in Richtung des Waldes. Ihr Körper machte sich selbstständig, bevor sie etwas dagegen tun konnte. In Windeseile packte sie die letzten Dinge in den Kühlschrank und ließ die restlichen Einkäufe auf der Küchentheke stehen. Bis zu ihrem Treffen mit Rufus blieben ihr noch mehrere Stunden. Genug Zeit für einen kurzen Abstecher in den Wald.
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Legends of Alaska
Loup-garouAva Kingsleys Leben wird aus den Fugen gerissen, als sie nach 6 Jahren in ihre Heimat zurückkehren muss. Dort soll sie das Erbe verwalten, das nach dem mysteriösen Tod ihrer Eltern mit ihrem 21. Geburtstag an sie übergehen soll. Fest entschlossen ih...