Kapitel 4

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Gähnend streckte sich Ava, bevor sie mit den Fingern über ihre Schläfen fuhr. Seit sie in den Flieger gestiegen war, schleppte sie diese grässlichen Kopfschmerzen mit sich herum. Selbst der Schlaf, den sie sich in der vergangenen Nacht gegönnt hatte, hatte keine Abhilfe geschaffen. Stattdessen fühlten sich ihre Knochen zusätzlich unangenehm versteift an. Dabei hatte sie überraschenderweise besser geschlafen, als erwartet. Andererseits hatte sie die Erwartungen an ihre erste Nacht an diesem Ort absichtlich gering gehalten.

Ihre rechte Hand fand das Treppengeländer, bevor sie langsam eine Stufe nach der anderen nahm. Es war so früh, dass sie ihren eigenen Sinnen trotz der morgendlichen Erfrischungsdusche noch nicht traute. Glücklicherweise hatte Conrad versprochen alles, was Strom und Wasser betraf, für sie zu regeln, bevor sie hierherkam. Offensichtlich waren seine Bemühungen erfolgreich gewesen.

Als sie das Ende erreichte, brauchte sie einen Moment, um sich zu orientieren. Dann wandte sie sich nach rechts, in der Hoffnung so in die Küche zu gelangen. Dass sie sich die Wege nicht mehr im Schlaf fand, war irgendwie beschämend und sie war froh, dass sie niemand beobachtete.

Geradewegs trat sie durch das Wohnzimmer, in das sie seit ihrem Eintreffen und dem Zusammenbruch auf dem Teppich keinen Fuß mehr gesetzt hatte. Ihre Kehle verengte sich schmerzhaft, während als sie die Erinnerungen einholten. Gestern war es ihr gerade so gelungen, sich nach einer Ewigkeit vom Boden zu erheben, bevor sie ihre Sachen hoch in ihr altes Kinderzimmer gebracht hatte und dort einfach nur ins Bett gefallen war. Etwas anderes hätte sie nicht ausgehalten.

Doch als sie so auf dem Boden gehockt hatte, hatte sie eines realisiert. Sie durfte nicht zulassen, dass die Erinnerungen sie auf diese Weise übermannten und ihr die Kontrolle über sich selbst raubten. Ansonsten würde jede Sekunde ihres Aufenthalts zur puren, emotionalen Hölle mutieren und sie bis zur Heimatfahrt in ein heulendes Wrack verwandeln. Das hatte sie die letzten sechs Jahre vermieten und war nicht bereit sich kampflos den Emotionen zu ergeben. Alles, was sie brauchte, war die Beherrschung, in der sie sich, seit sie fünfzehn war, so gekonnt übte. Einen kühlen Kopf zu bewahren, war ihr wichtigstes Werkzeug bei ihrem Vorhaben. Gerade stand es darum jedoch in Anbetracht ihrer Kopfschmerzen nicht sonderlich gut.

Sie bewegte sich durchs Wohnzimmer auf die offene Küchenecke zu. Vor der Kücheninsel kam sie zögerlich zum Stehen und beugte die Barhocker, die davor platziert waren, kritisch. Früher hatte sie hier jeden Morgen gefrühstückt. Mittlerweile erweckten die schmalen, wackeligen Stuhlbeine jedoch kein großes Vertrauen in ihr. Letztendlich ließ sie sich aber doch darauf sinken. Als sie ihr Gesäß auf der Sitzfläche platzierte, knarrte es gefährlich. Instinktiv stellte sie die Zehenspitzen auf dem Boden ab, als könnte sie sich damit im Falle eines Zusammenbrechens retten. Dabei standen ihre Chancen darauf realistisch gesehen schlecht.

Ihr Blick fiel auf den Kühlschrank gegenüber von ihr. Sie musste nicht hineinsehen, um zu wissen, dass darin kein annehmbares Frühstück auf sie wartete. Ganz im Gegenteil. Es graute ihr regelrecht vor dem, was sie vorfinden könnte, wenn sie die Kühlschranktür öffnete. Deshalb entschied sie kurzerhand, das auf einen späteren Zeitpunkt zu vertagen. Stattdessen würde sie einkaufen gehen müssen, den sie bezweifelte stark, dass es in Spring Haven einen Lieferdienst gab. Und wenn, dann würde er vermutlich nicht bis zu ihrem Elternhaus liefern. Schließlich lag es knapp zehn Autominuten vom Stadtkern entfernt am Waldrand. Zumal es bisher unbewohnt gewesen war. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als selbst in die Stadt und sich mit dem Wesentlichen einzudecken.

Nachdenklich fuhr mit dem Zeigefinger über den Ring, den sie sich an den Zeigefinger gesteckt hatte. Dessen milchig weißer Stein hatte sie fasziniert, seit sie zum ersten Mal erblickt hatte. Wenn man einen genaueren Blick riskierte, wirkte es, als würde sich im Inneren etwas regen. Wie ein Schneesturm mitten im Nebel. Manchmal wenn sie die Augen zusammen kniff, meinte sie ein sanftes lilafarbenes Licht zu erkennen, das sich nur schwach den Weg durch den Dunst bahnen konnte. Ob es tatsächlich aus dem Herzen des Steins kam oder dessen Oberfläche einfach nur auf merkwürdige Weise Lichtstrahlen brach, hatte sie jedoch nie vollkommen bestimmen können.

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