Kapitel 3

64 12 2
                                    

Die beißende Kälte bohrte sich in ihre Wangen wie tausend Nadeln. Messerscharf und gnadenlos. Vorsichtig versuchte Ava den Schal weiter hochzuschieben, um damit ihr Kinn zu bedecken. Obwohl es ihr helfen würde sich aufzuwärmen, wagte sie es kaum sich zu bewegen. Ihre Nasenspitze glühte förmlich, als müsste sie ihren Körper alleine warm halten.

Kaum war sie aus dem Flieger gestiegen, hatte sie eine ungewohnte Kälte ergriffen. Doch erst als sie auf die kleine und für ihren Geschmack viel marode Fähre gestiegen war, war ihr klar geworden, wie sehr sie das Wetter in Alaska unterschätzt hatte. Wie konnte es sein, dass sie das vergessen hatte? Schließlich hatte sie die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens hier verbracht. Möglicherweise war es ihr aber auch früher einfach nie so vorgekommen, weil sie daran gewöhnt gewesen war.

Mit einer ungeheuren Wucht schlugen die schäumenden Wellen gegen den Bug der Fähre und ließen Ava zur Seite taumeln. Perlweißer Schaum spritzte auf das rostende Deck. Instinktiv zog sie eine Hand aus der Jackentasche, um sich an den nächstbesten Gegenstand zu klammern, während kleine, eisige Wassertropfen ihre Wangen benetzten. Die Kälte peitschte gegen die entblößte Haut und ließ sich erschaudern. Sie presste die Zähne zusammen und stieß ein Zischen aus. Nicht umsonst hatte sie den Gedanken gehasst, hierher zurückzukehren.

Ihre Finger klammerten sich krampfhaft um den Türgriff ihres Mietwagens, während sie darauf wartete, dass das Boot zu wanken aufhörte. Um sie herum schien sie alles zu drehen und sie hatte das Gefühl, ihr würde sich der Magen umdrehen. Seit wann war sie seekrank?

Es vergingen einige Sekunden, die sich wie unzählige, schleichende Minuten anfühlten, bis sich die See wieder beruhigte und Ava ihren Griff zögerlich lockerte. Sie lehnte die Stirn gegen das Gehäuse des Wagens und stieß einen entnervten Seufzer aus. Nie hatte sie damit gerechnet, dass es einfach sein würde in ihre alte Heimat zurückzukehren. Doch gerade wirkte es, als würde ihr das Schicksal absichtlich übel mitspielen. Als würde die Welt sie dafür bestrafen, dass sie sich so lange vor dieser Aufgabe gedrückt hatte.

Ihr Kopf brummte und das ständige Schaukeln spielte dem nur in die Karten. Sie presste sich eine Hand vor den Mund, um die Übelkeit zu unterdrücken. Dann zog sie mit einem Schwung die Fahrertür auf und ließ sich zurück in den Sitz sinken. Wäre sie bloß nicht ausgestiegen. Sofort hatte sie die Rechnung für diese strohdoofe Entscheidung kassiert.

Vorsichtig wackelte sie mit ihren Zehen, die durch das dünne Material der Turnschuhe so kalt geworden waren, dass es sich anfühlte, als hätten sich Eiswürfel an ihren Zehen gebildet. Sie zog die Mütze weiter über ihre Ohren und nahm die dünne Jacke, in der sie das Haus verlassen hatte, vom Beifahrersitz. Zumindest war sie nicht so blöd gewesen, sie die ganze Zeit anbehalten, sondern war auf die Idee gekommen, sie gegen die Winterjacke zu tauschen, die sie vor dem Aufbruch eingepackt hatte. Bei ihrem Schuhwerk war ihr das blöderweise nicht in den Sinn gekommen.

Innerlich verfluchte sie sich. Dafür, dass sie darauf bestanden hatte, alleine zu fahren und dass sie es so lange vor sich hergeschoben hatte. Und sie verfluchte ihre Eltern, weil sie der einzige Grund für ihre Misere waren. Weil sie sie im Stich gelassen hatten, als sie gerade einmal fünfzehn gewesen war und weil sie Ava zwangen, nun wieder hierher zurückzukehren.

Der Drang danach einfach loszuschreien pochte in ihrer Kehle. Verspottet ihre Schwäche. Ihre Finger krallten sich um den Stoff ihrer Jacke, während sie sich zurückzuhalten versuchte. Sie konnte nicht die Beherrschung verlieren. Nicht, wenn sie seit sechs Jahren alles dafür gab, sich zusammenzureißen. Obwohl sie nicht einmal wusste, ob sie das um ihrer selbst willen oder für alle anderen tat.

Atmen, Ava. Atmen.
Sie versuchte sich so gut es ging auf ihre Vernunft zurückzubesinnen. Vorsichtig löste sie den verkrampften Griff ihrer Finger um ihre Jacke und richtete den Blick geradeaus, wo sich die riesenhaften Berge Alaskas vor ihr auftürmten, wie stille, wunderschöne Giganten. Um die Bergspitzen rankte sich dicker Nebel, als würden sie sich dahinter steckten wie unter einem Schutzmantel. Die massiven tiefgrünen Tannen, die sich wie uralte Riesen am Ufer auftürmten, konnte jedoch selbst der Nebel nicht verschleiern.

Legends of AlaskaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt