Prolog - Nie älter als 16

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Glasscherben knirschen unter meinen Schuhen. Ich bin ihnen nicht ausgewischen, obwohl ich sie gesehen habe. Der Klang erinnert mich an irgendwas, was ich gerade nicht greifen kann, aber egal, was es ist - es macht mir Kopfschmerzen.

"Weißt du, worüber ich neulich nachgedacht hab?", hasple ich.

Tua legt ein rasches Tempo vor.
Ich habe Mühe mit ihm Schritt zu halten. Er steuert eine Bank an, setzt sich hin und sieht zu mir hoch.

"Nein. Ich kann nicht in deinen Kopf gucken Iara. Konnte ich noch nie", antwortet er mir ungeduldig.

"Ja." Ich setze mich neben ihn. Auf die Kante, als müsste ich gleich wieder aufspringen oder wenigstens jederzeit dazu bereit sein. "Willst du's aber wissen?"

Tuas Blick wandert zu mir. Er mustert mich, ich fühle seine Augen auf mir, starre aber das Wasser der Spree an, die sich sanft kräuselt. Das lenkt mich von all seiner Wut ab.

"Natürlich."

"Ich hab überlegt, warum wir eigentlich zusammen sind. Was ich in dir sehe; und was du vielleicht in mir siehst", erzähle ich.

Er verschränkt die Arme vor der Brust, mustert mich noch immer.

"Was glaubst du?"

Eine kleine Pause entsteht, die nur ein paar Tauben mit ihrem Gurren untermalen und das Geräusch der Wellen, die gegen eine orange Boje schwappen, weil auf der anderen Seite ein Dampfer vorbeischaukelt.

"Ich sehe in dir mein Schicksal." Es ist klar auf den Punkt gebracht und ich sehe, wie Tuas Gesichtszüge weicher werden. "Alles, was ich nicht sein will", fahre ich fort und betrachte ihn. "Jemanden der andere belogen, betrogen, geschlagen hat. Und dann alles, was ich sein will. Du hast so viel gesehen, du hast gelebt." Statt weiterzusprechen, tue ich einen ganz und gar bewussten Atemzug. "Du bist erwachsen. Und das bin ich nicht", sage ich. Meine Stimme klingt fest. Ich bin so ehrlich überzeugt davon, dass es mich selbst etwas überrascht. "Was dich angeht, also das, was du in mir siehst ... Ich bin nie älter als 16 geworden. Ein Kind. Ich bin alles, was du nicht sein willst: unvernünftig, egozentriert, tyrannisch. Und alles, was du gern wärst: unbedarften Gemüts, warmblütig, lebensbejahend. Ich glaube, wir sind seit geraumer Zeit jetzt schon, was wir nicht sein wollen, meinst du nicht auch?"

Tua löst die Verschränkung seiner Arme und sinkt gegen Rückenlehne.
Ich bleibe, wo ich bin, an der Kante.
Er schaut wie ich vorhin aufs Wasser.

"Wir waren auch mal anders. Als wir frisch zusammengekommen sind. Weißt du das noch?"

"Ja", erwidere ich leise. "Ich vermisse das. Ich vermisse uns."

"Ich auch."

Wie von selbst gleite ich auf der Bank ebenso nach hinten wie er. Unsere Arme berühren sich und es kribbelt, doch wir schauen beide nach vorn.

"Was, wenn es nicht sein soll, Tua?"

"Was nicht? Wir?"

"Ja."

Eine Weile pusten wir nur unsere Atemwölkchen in die Luft.

"Was, wenn doch?", gibt er schließlich zurück und ich schlucke vergeblich gegen den Kloß in meinem Hals an.

"Das ist die zweite Frage, oder? Was ist mit der ersten, mit meiner? Müssen wir die nicht erstmal beantworten, um deine beantworten zu können?"

Tua schweigt.

"Du hast recht", murmelt er irgendwann.

"Wir haben lange genug gestritten", hauche ich.

Er nickt.

„Komm her“, flüstert er und ich kuschle mich in seine Arme. Und so sitzen wir da, auf dieser Bank am Wasser, um uns herum nur die kalte Februarluft und das Geplapper der waghalsigen Spaziergänger.

Und ich liebe ihn. Aber es ist das letzte Mal in diesem Jahr, dass wir uns so aneinander festhalten werden. Das geht einfach nicht mehr.

Wir reden nicht darüber, dass wir uns gerade getrennt haben. Keiner von uns spricht es aus. Es ist eine Trennung, aber keine offizielle. Vielleicht ist es deshalb ja auch gar keine, schießt es mir auf dem Weg zurück zur WG durch den Kopf.

Aber mein Herz protestiert sofort. Es schmerzt.

Natürlich ist es eine Trennung.

Natürlich war unser Kuss ein Abschiedskuss, und natürlich liebe ich Tua trotzdem.

Aber ich fühle mich auch eine Tonne leichter.

NovemberWo Geschichten leben. Entdecke jetzt