Regentropfen wie Kanonensplitter

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Wasser trommelt auf meine Haut. Ich habe die Arme weit ausgestreckt und atme tief seinen Geruch ein. Kühl, frisch, neu und erdig, weil die Tropfen in den Waldboden einschlagen. Nichts habe ich von Zuhause mitgenommen, nur meine Fahrkarte, meinen Schlüssel und die Kleider, die ich am Leib trage haben mich hierher begleitet. Wenn mir irgendwas hier passiert, wird es keiner erfahren. Aber was soll mir schon geschehen? Hier ist keiner außer mir. Ich bin frei, stiefle in meinem Boots durch die regengenährte Natur. Das Grün um mich strahlt satt vor dem anthrazitgrauen Himmel. Es ist unmöglich, sich auf irgendwas anderes zu konzentrieren als auf dieses Spektakel. Der Nebel meiner Gedanken wird zerstoben vom kräftigen Schauer.

Ich bin rausgefahren, um mich in diesem Moment jetzt aufzuhalten. Nicht in der Vergangenheit bei der Trennung, und auch nicht in unserer ungewissen Zukunft. Ich stehe wortwörtlich im Regen, trotzdem geht es mir gut. Es ist so schön. Ich hatte vergessen, wie heilend ein Spaziergang im Regen auf mich wirkt. Dabei ist der letzte noch gar nicht lange her.

Ich habe die Selbsthilfebücher vorerst beiseite gelegt. Zwar will ich sie noch lesen, aber davor sollte ich erstmal bei mir selbst ankommen. Um meine Fragen zu beantworten.

Nach wie vor weiß Pari von nichts. Auch, wenn ich mich ein paar mal kaum zügeln konnte, habe ich mir immer wieder den Mund verboten. Sie ist mit Dag einen Schritt weiter und obwohl ich ihre Unsicherheit bei all dem spüre, als würde sie durch mich hindurch vibrieren, statt durch sie, muss ich an Tua und seine Worte denken, als wir Mikas Geburtstagsparty vorbereitet haben. Er glaubt, dass Dag ihr ihre Sorgen stückweise nehmen wird. Damit sie wieder so mutig wird, wie ich sie kennengelernt habe.

Gott, ich habe dieses Mädchen mein Leben lang bewundert. Ihre Manga-Zeichnungen, ihren Kleidungsstil, ihre Lebensentscheidungen und vor allem ihre Fähigkeit, mich an sich zu drücken, sodass mir innerlich ganz warm wurde, egal wie aussichtslos die Lage schien. Die Umarmungen meiner besten Freundin sind liebevoller als die meiner Mutter. Das ist eine der Antworten, realisiere ich. Auf die Frage, was mir außerhalb meiner Beziehung wichtig ist. Sie. Pari.

Unsere Freundschaft. Ich möchte nicht hinterm Berg halten mit einem so riesigen Ding wie dieser Trennung. Aber ich will sie eben auch nicht überfordern. Im selben Augenblick frage ich mich aber auch schon, wieso ich überhaupt glaube, dass ich sie damit überfordern könnte. Wie hab ich darüber überhaupt gedacht, bevor Mika meinte, er würde ihr gerade lieber kein Beispiel dafür liefen, wie eine Beziehung schiefgehen kann?

Ich wollte mich ihr anvertrauen. Warum hab ich es nicht getan? Weil ich mir selbst nicht vertraue. Da haben wir das Kernproblem. Ich bin hörig geworden, wie jeder Mensch ohne gesundes Selbstvertrauen. Lasse lieber Mika für mich denken und entscheiden. Frustriert kicke ich einen dicken, abgestorbenen Ast aus dem Weg.

Warum bin ich so? Warum mach ich das mit mir?

Mein Blick wandert nach oben zum Himmel. Der Regen fällt jetzt langsamer, zumindest kommt es mir so vor. Die Tropfen werden immer sanfter. Daran kann ich mir ein Beispiel nehmen. Wenn eins zum Scheitern verurteilt ist, dann diese Art, mir selber Vorwürfe zu machen. Die Fragen, die ich aufgeschrieben habe, erscheinen mir ohnehin viel zielführender. Und da ich mehr auf mein Bauchgefühl hören will ... Die Zweite, die ich mir gestern gestellt habe, löst dieses unschöne Ziepen in meinen Herzen aus, als wollte jemand Tua, der darin ja noch seinen Platz hat, gewaltsam aus mir herausreißen. Aber ich bin es selbst, die es wissen will, also gehe ich weiter den schlammigen Pfad entlang, dem ich folge, und lasse mich auf dieses Gedankenexperiment ein.

Frei gesprochen, ohne mentale Gymnastik: Ja. Ich kann mir vorstellen, eines Tages mit einem anderen Mann zusammenzukommen. Wieso auch nicht? Ich mich garantiert nicht selber zur Witwe in meinen Zwanzigern. Mir ist klar, dass ich einen netten Kerl kennenlernen würde; es ist schließlich nicht so, dass sich keiner für mich interessiert. Egal, wie ich es drehe und wende ‐ dieser Liebeskummer jetzt wird vorbeigehen, und wenn ich damit durch bin, dann darf ein neuer Mensch in mein Leben treten.

Sobald der Kummer rum ist, und nur Liebe zurückgeblieben ist. Denn dazu stehe ich nach wie vor ... Tua und mich verbindet etwas, das wir geschaffen haben, das aber schon lange über uns hinausgewachsen ist. Lieben werden wir uns immer.

Aber das schließt nicht aus, dass ich die große Liebe meines Lebens womöglich noch gar nicht kennengelernt habe. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Vielleicht sind kommen Tua und ich wieder zusammen. Dann sind wir vielleicht 20 Jahre verheiratet, bis ich diesen anderen Mann endlich kennenlerne. Für sowas kann man keinen Plan machen. So sehr ich Pläne auch liebe, es geht nicht.

Als wir damals zusammengekommen sind, war das immerhin auch nicht geplant. Die Trennung von Harvey hat mir den Boden unter den Füßen weggerissen, so hat es sich angefühlt. Dann hat Tua mir irgendwie gezeigt, dass das gar nicht stimmt. Ich bin nie wirklich gefallen. Was ich damals empfunden habe, hat die Welt nicht interessiert. Der Erdball hat sich weitergedreht. Bevor wir zusammenkamen habe ich mich tatsächlich ähnlich wie jetzt gefühlt. Zermürbt, ungerecht behandelt vom Schicksal, aber auch voller Hoffnung und irgendwie aufgeregt bangend auf das, was wohl als Nächstes passieren würde. Allerdings wollte ich damals auch mehr Nähe als je zuvor. Ich wollte auf keinen Fall einen Typen, der entscheidet, dass er einfach gehen kann, wenn ihm was nicht passt. Die Erkenntnis erschreckt mich irgendwie und ich vergrabe meine Hände tief in den Taschen meiner Regenjacke.

Das Universum hat mich anscheinend gehört. Laut und deutlich. Statt Harvey, der aus dem Unrecht, dass ich ihm angetan habe, als ich ihn geohrfeigt habe, seine Konsequenzen gezogen hat, habe ich Tua bekommen. Der bestimmt an die sechstausendmal einfach gegangen ist, und den genau das aufgefressen hat. All die Schuldgefühle, die er über die Jahre in seinem Innern angehäuft hat, hat er auf mich projiziert. Ich durfte keine Frau für eine bestimmte Phase in seinem Leben sein; ich musste mehr sein. Irgendeine musste mehr sein. Und diese Eine war ich.

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⏰ Letzte Aktualisierung: 20 hours ago ⏰

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