Stean hat mich gleich als allererstes in einen Burgerladen in der Nähe des Braunschweiger Bahnhofs geschleift. Er hatte anscheinend großen Hunger und haut ordentlich rein. Pommesfett kriecht in die feinen Rillen seiner Fingerspitzen. Er hinterlässt Abdrücke auf der Tischplatte, als er sie umfasst und mich dabei beobachtet, wie ich mir meinen Cheeseburger in lächerlich kleinen Bissen einverleibe. Ich habe keinen Appetit. Aber ich möchte nicht, dass er sich unnötig Sorgen um mich macht. Er hat schließlich recht, so wie der Rest meiner Freunde. Ich brauche die Energiezufuhr.
Das ist nicht meine erste Trennung und ich bin zu jung, als dass ich einfach so behaupten könnte, dass es meine letzte sein wird.
Trauer ist okay, und Appetitlosigkeit unter diesen Umständen vielleicht sogar normal. Aber ich will mich nicht in meinem Kummer suhlen.Stean guckt mich an, wie einen der beste Freund eben in solchen Situationen anschaut. Als wüsste er das alles schon über mich. Alles, was ich gerade gedacht habe.
"Du bist so still", murmle ich.
"Ach, was." Er presst die Lippen aufeinander. Es sieht fast ein bisschen schmerzhaft aus, da öffnet sich sein Mund wieder und er fragt: "Hat ein Teil von dir nicht schon lange damit gerechnet?"Natürlich stimmt es, trotzdem beiße ich mir auf die Zunge, als wäre ich erstaunt und gleichzeitig schockiert von seiner uncharmanten Behauptung, die in der Frage mitschwingt. Du hättest ja wohl ahnen können, dass das mit euch nicht mehr lange so weitergehen würde. Es trifft mich.
"Doch, sicher", erwidere ich und bemühe mich, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten. Stean sucht in meinem Gesicht nach etwas. Vielleicht nach den Tränen, die ich zurückhalte oder dem unmerklichen Beben, dass meine Nasenflügel jedes Mal erschüttert, bevor ich zu weinen anfange.
"Das ist das Drama nicht wert, Iara." Seine Stimme klingt sanft, er erinnert mich nur an eine Tatsache und doch spüre ich, wie sich meine Kehle sofort zuschnürt.
"Ich weiß, dass du recht hast", bringe ich nach einer kurzen Pause mit Mühe hervor und wende meinen Blick ab, starre auf die Lücke zwischen der Selbstbedienungstheke und der Wand. Der Weg in Teufels Küche steht mir gerade ganz ähnlich offen. Aber den werde ich nicht einschlagen. Ich weiß nicht, was ich will, aber ich weiß sehr wohl, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Tua und ich haben uns lange nicht gut getan. Und es sagt ja auch keiner, dass wir nicht wieder zusammenkommen können, sobald sich der Sturm gelegt hat.
"Du musstest gehen", setzt Stean meinen Gedankenstrom einfach fort. Ich nicke und traue mich, meinen Kopf wieder nach vorn zu drehen. Als ich ihn wieder ansehe, lächelt er zurückhaltend. Auch ich muss lächeln, und er grinst daraufhin noch ein bisschen breiter, legt die Ellbogen auf dem dunkelblauen Diner-Tisch ab und lehnt sich vor. "Was hältst du von einem Spaziergang im Regen?"
"Klingt ja bezaubernd", gluckse ich und wir müssen beide lachen. Das Stechen in meiner Brust ist nicht fort, aber es hält sich im Hintergrund. Als wäre es beleidigt, dass ich ihm ab jetzt keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken gedenke.
"Dann los." Stean ist aufgestanden und streckt seine Hand nach mir aus. Ich ergreife sie, lasse mich von ihm auf die Füße ziehen. "Wer als Erster aus der Tür ist", flüstert er mit funkelnden Augen und kaum hat er den Satz zuende gesprochen, sprinten wir auf den Ausgang zu.
Ich stolpere beinah über meine eigenen Füße, verliere gegen ihn, aber ich lache auch laut dabei, und das beides zusammen, das Lachen und Rennen, lassen mich zum ersten Mal heute frei fühlen. Der Regen prasselt auf meinen wasserdichten Parka, das Trommeln auf meiner Kapuze überdeckt unser ausgelassenes Gelächter fast, und deshalb lache ich noch lauter, aus vollen Hals. Stean strahlt mich an und umarmt mich unvermittelt. Er ist nass, ich bin nass, aber ich lache und seine Miene verrät mir, wie stolz er auf mich ist, weil ich das trotz allem fertigbringe.
Die Beklemmung, die mich in den vergangenen Monaten verfolgt hat, habe ich abgehängt. Ihr Echo verhallt in meinem Innern. Wenigstens für den Moment.
"Ich bin so froh, dass wir befreundet sind", sage ich zu ihm und Stean drückt mich noch einmal länger.
"Ich auch, ich bin so froh." Dann lässt er mich los und deutet mit dem Kopf in Richtung Park. "Komm, wir gehen den langen Weg. Oder ist dir kalt?"
"Nein, gar nicht", antworte ich und folge ihm, als er sich beschwingten Schrittes in Bewegung setzt. "Ich liebe Regen", bekenne ich. Die Tropfen platschen aufs Wasser und rütteln die sonst so glatte Oberfläche auf. Milliarden konzentrischer Kreise bilden sich darauf und zersplittern unsere Spiegelungen. "Nach dem Regen ist alles so gut wie neu."
DU LIEST GERADE
November
RandomStaffel 5 meiner Daily Soap, lesbar ohne Vorwissen. Ich empfehle allerdings doch ausdücklich „Messias" davor zu lesen, weil der emotionale Impact, den die Geschehnisse in dieser Staffel haben, auf die Art greifbarer für euch wird. Abgesehen davon kn...