Es ist Tuas Geburtstag. Ich war mir sicher, genau zu wissen, was ich als Allererstes täte, wenn dieser besonderen Morgen endlich grauen würde. Nun tut er es, aber ich kann mich nicht wie geplant zur Seite drehen und meinen Freund küssen. Denn er ist nicht mehr mein Freund. Und er ist nicht hier.
Ich bin nach wie vor bei Stean, und es ist noch so früh, dass ich nicht sagen kann, wieso ich wach bin. Wo ich doch zuletzt eher dem Drang nachgegeben haben, auzuschlafen bis mittags, wann immer man mich gelassen hat ...Mein Handy findet den Weg in meine Hände und ich drücke die schmale Taste an der Seite. Das Display leuchtet auf. Eine Nachricht von Tarik. Ein paar wenige zwischen Mika und Pari in unserem WG-Gruppenchat. Das ist alles. Ich lasse meine Hände wieder sinken, lege mein Telefon auf den Couchtisch und verschränke die Arme hinterm Kopf, wie Tua es oft tut. "Happy Birthday", flüstere ich. Es ist ein Test, wie es sich anfühlt. Das Weiß der Decke über mir verschluckt die Worte. Kaum habe ich sie ausgesprochen, brennt ein Feuer in mir, dass sich eilig in meinem gesamten Körper ausbreitet und mich auf die Füße treibt. Ich muss raus hier. Dringend.
Ich schlüpfe in frische Klamotten und halte mich nicht mal mit flüchtiger Katzenwäsche im Bad auf. Stattdessen schnappe ich mir mein Handy und Steans Schlüssel, den er in einer Schale direkt am Eingang seiner Wohnung aufbewahrt. Wahrscheinlich bin ich zurück, ehe er wach wird.
Auf der Straße ist kaum einer unterwegs, ich sehe nur, wie ein Heizungsmonteur in sein Fahrzeug mit entsprechendem Schriftzug einsteigt. Er mustert mich komisch, dann schlägt er die Tür zu, lässt den Motor an und dreht das Radio auf. Ich schiebe meine Hände in meine Jackentaschen, weil es so kalt ist und finde in der linken einen Fünfeuroschein. Mein Glück. Davon kann ich mir einen Becher Kaffee kaufen.
Soll ich ihn anrufen?
Die Frage spukt durch meine Gedanken, während ich mich in Bewegung setze. Ich könnte jemanden fragen, ob ich es machen soll. Stean oder Tarik. Aber ich hab so ein Gefühl, dass mir beide nur dasselbe sagen würden – Dass ich selbst entscheiden muss. Wenn beide dasselbe sagen, dann stimmt es. Immer.
Vor einem Bäcker halte ich an, es ist ein Eck-Ladenlokal und gerade holt jemand frische Croissants aus dem Ofen, dem Geruch nach zu urteilen. Wie magisch angezogen betrete ich den Verkaufsraum. Ich erblicke eine Studentin, die emsig an einem der Tische paukt. Wahrscheinlich schreibt sie in wenigen Stunden eine Prüfung. Außerdem sitzt vorn am Tresen auf Höhe der Kaffeemaschine ein älterer Herr. Er riecht streng und hat einen Hund dabei, den er mit einer Scheibe Wurst von seinem kleinen Frühstücksteller füttert. Ich steuere eine Sitzecke hinten an, so sich niemand außer einem Mann in Radlermontur befindet, der mir zunickt und weiter an seinem frischgepressten O-Saft nippt, als ich an ihm vorbeigehe.
Ich ziehe meine Jacke aus, nehme die wenigen Wertsachen aber mit und bestelle bei der Dame hinterm Tresen einen Pott Kaffee, frage sie, was die Croissants kosten. Sie antwortet mit osteuropäischem Akzent, dass ein Buttercroissant 1,50€ macht. Das passt also noch. Ich lasse mir beides von ihr über die Theke reichen. Neben meinem Kaffee liegt ein marmoriertes Sandplätzchen, das ich mir als Erstes einverleibe. Durchs Fenster beobachte ich, wie die Sonne aufgeht. Das Licht ist schön und ich lehne mich auf meinem Sessel etwas zurück.
Als ich meinen Kaffee geleert habe, greife ich nach meinem Handy. Ohne groß zu überlegen öffne ich meine Kontakte und rufe Tua an. Es ist erst halb acht, aber zu meiner Verwunderung hebt er ab.
"Hey", begrüßt er mich und klingt dabei nicht mal verschlafen.
"Hey. Alles Liebe zum Geburtstag", sage ich leise. Tua ist kein Fremder, so kann ich ihn nicht behandeln. Deswegen musste ich es tun.
"Danke", erwidert er leise. "Warum bist du schon wach?", schiebt er vorsichtig hinterher, unsicher darüber, ob wir über solche Dinge noch reden.
"Keine Ahnung", antworte ich ehrlich. "Warum du?"
"Ich hab nicht geschlafen", meint er. "Ich bin im Mauerpark, sitze auf einer dieser Schaukeln und trinke Tee."
Unwillkürlich muss ich lächeln.
"Das klingt schön.""Ist es auch irgendwie. Ich hab mir heute nur anders vorgestellt."
"Ich mir auch", murmle ich. "Was machst du noch?"
"Hab alles abgesagt, aber Vadim und Momo kommen nachher vorbei, Jenn vielleicht später."
Da fällt mir eine Sache ein.
"Pari hat Napoleonkuchen für dich gebacken. Du kannst ihn in der WG abholen. Ihr könnt ihn essen.""Das war ..." Er spricht nicht aus, dass es mitunter sein Lieblingsdessert in seiner Kindheit war. Er weiß, dass ich es weiß. Dass ich seine Mutter nach dem Rezept gefragt habe. Dass ich Pari extra darum gebeten habe, das mit dem Backen zu übernehmen, weil ich leider eine ziemliche Niete darin bin, wenn ich es allein versuche, und zu sehr mit Arbeit eingedeckt war zuletzt. "Danke", wiederholt er stattdessen nur nochmal.
"Tua, als wir das letzte Mal telefoniert haben und du gesagt hast, dass du mich liebst ...", sprudelt es aus mir raus. Ich zwinge mich zu einem tiefen Atemzug. "Da hab ich es erwidert, aber die Leitung war schon tot." Er sagt nichts dazu. Was sollte er schon anmerken? Da gibt es nichts. "Ich wollte, dass du's weißt."
"Iara, wenn du wiederkommst ...", er stoppt. Ihm war wohl nicht klar, wie dieser Satz enden soll, als er ihn begonnen hat. "Lass uns mal treffen und spazieren gehen. Länger."
"Und dabei reden", füge ich an.
Kurzes Schweigen.
"Denk bitte nicht, ich wüsste schon, was ich dir dann alles sagen will. Kein Druck, okay? Ich konnte mich noch nicht richtig sammeln und es ist auch gut für mich, wenn du noch Zeit brauchst."
"Ich glaube, Zeit ist nicht das, was ich brauche", flüstere ich. "Ich habe die Klarheit irgendwo in mir. Nur keinen Zugang dazu." Ich muss hart schlucken. "Kennst du dieses Gefühl, als hättest du was verloren, und plötzlich fragst du dich, ob es je wirklich da war? Ob es überhaupt echt ist, oder bloß eine Lüge, die du dir und anderen erzählst? Was, wenn ich nie wirklich einen Zugang zu mir hatte?"
"Das ist Blödsinn, Iara. Aber natürlich kenne ich dieses Gefühl", versichert er mir ohne Umschweife. "Du veränderst dich einfach. Ich versprech dir, dass du den Zugang wiederfindest. Und ich will dich nicht so eklig mansplainen, aber ich schau gerade, was war, was jetzt ist ... und hab mir vorgenommen irgendwann bei der Frage zu landen, woran ich glaube."
Es liegt mir auf der Zunge, ob er an uns glaubt. Doch ich will ihm diese Frage nicht stellen, solange ich selber keine Antwort darauf habe.
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November
RandomStaffel 5 meiner Daily Soap, lesbar ohne Vorwissen. Ich empfehle allerdings doch ausdücklich „Messias" davor zu lesen, weil der emotionale Impact, den die Geschehnisse in dieser Staffel haben, auf die Art greifbarer für euch wird. Abgesehen davon kn...