Inventur

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Es holt mich ein, während wir genüsslich unsere Milchshakes schlürfen. Stean bemerkt es natürlich, sagt aber nichts dazu, dass ich in meine Gedankenwelt abtauche, obwohl wir zusammen den neuesten Superman-Film streamen. Miri ist geblieben und krault mir den Rücken, nach einem Blickwechsel mit Stean. Ich weiß, dass es mich trösten soll, aber irgendwie verfehlt die Geste diesen Effekt.

Ich kenne Miri nicht gut genug dafür, auch wenn sie mir sympathisch ist, ist sie keine Freundin. Wenn es Stean wäre, wäre es aber auch nicht anders, muss ich mir eingestehen. Pari fehlt mir, meine beste Freundin, und Schuldgefühle überrollen mich, weil ich Mika und ihr nichts von der Trennung erzählt habe. Vielleicht wäre es doch besser. Wenn ich zu Hause wäre, bei ihnen, in unserer WG ... Wir würden zu dritt auf der Hollywoodschaukel sitzen, dick eingepackt in Decken, Hoodies und jeder in mindestens zwei Sockenpaare. Und mit ihnen könnte ich reden. Hier kann ich es gerade nicht.

Stean und ich haben diese besondere Verbindung, wir sind Seelenverwandte. Aber Pari und Mika sind die Menschen, mit denen ich mein Leben verbringe. Und am Ende ist das mehr wert, schätze ich. Realistisch betrachtet. Auch wenn ich Stean wirklich lieb habe.

Ich ziehe die Knie an die Brust und Miri hört auf mit dem Kraulen. Was gut ist. Trotzdem schaue ich sie nicht an. Ich möchte keine sorgenvollen Blicke mehr, ich werfe mir selbst genug im Spiegel zu.

Das Telefonat mit Tua kommt mir wieder in den Sinn. Was war ...? Das ist die erste Frage.

Wir haben so viel durch miteinander. Bevor wie zusammen waren, war ich unglaublich gern in seiner Nähe. Er schien mir so ... weit. Ich hatte noch keine Ahnung, dass man im Leben nur auf Menschen trifft, die einem maximal ein paar wenige Stufen voraus sind. Für mich war er jemand, der aus seiner Vergangenheit extrem viel gelernt hat. Er hat viele kluge Dinge gesagt, und die meisten seiner klugen Feststellungen hatten mit mir zu tun. Mit meinen Verhaltensmustern, meinen inneren Wünschen und den Ursprüngen meiner Milliarden Gefühle. Tua hat mich durchschaut. Er war der erste Mensch, dem ich wirklich wichtig war. So wichtig, dass er mich kritisiert hat, während alle anderen immer nur meine Entfaltung fördern wollten. Das kann und will ich niemandem verübeln. Ich war so jung und bin es noch.

Wenn man Wachstum zu seiner einzigen Religion macht, dann wächst man ins nichts, sagt er in meinem Kopf und ich schlucke. Ich wollte wachsen, ich wollte mich entwickeln. Aber ich wollte mich nicht verändern und nun ist es doch passiert. Ich habe mich verändert. Und auch keinen unbedeutenden Teil dazu beigetragen; habe gekämpft wie eine Löwin für meine Veränderung, ohne zu wissen, dass ich es tue.

Die letzten Jahre ziehen an mir vorbei, selbst die ganze Zeit, bevor ich Tua kannte. Ich war ein Kind, und das bin ich nun nicht mehr. Und es tut weh, denn um Kinder kümmert man sich – Erwachsene hingegen müssen für sich selbst sorgen. Es ist keine Strafe, wenn man bedenkt, was ich damals nicht konnte und heute kann. Ich hätte mir nie zugetraut dem Vater meines Freundes an der Schwelle zum Tod beizustehen und nicht nur ihm damit den Übergang zu erleichtern, sondern auch Tua. Ich hätte mir nie zugetraut, meinen Traum von einer Karriere bei Universal fallen zu lassen und stattdessen bei einem anderen Label meine Ausbildung quasi von vorn zu beginnen. Und ich hätte mir niemals zugetraut, je wieder von Tua getrennt zu sein und trotzdem ansatzweise normal weiterzuleben.

Was ist ...? Die zweite Frage, die er gestellt hat. Also, Bestandsaufnahme ... Wir haben uns getrennt. Das ist erst ein paar Tage her und wir haben es kaum jemandem gesagt. Er liebt mich; und ich liebe ihn. Auch das ist eine unumstößliche Tatsache. Trotzdem konnte ich die letzten Monate kaum nicht einmal wirklich durchatmen. Ich habe es so oft versucht, aber ich konnte diese Beziehung nicht aufrechterhalten, nicht so. Und diesbezüglich war ich sehr ehrlich zu Tua. Mich beeindruckt es immer noch, wenn ich daran denke, wie er es mit Fassung getragen hat. Das ist heute anders als nach unserer ersten Trennung. Diese Entscheidung war eine beiderseitige, und es war eine verdammt gute. Wir können uns gerade nicht aufeinander einlassen. Aktuell liegt mein Fokus auf mir, weil ich endgültig weg will von diesem ständigen Gefühl der Anspannung, das mich schon verfolgt, seit mein Vater uns hat sitzenlassen und wir umziehen mussten. Nach wie vor hänge ich da drin. Die Art, wie Tua und ich unsere Beziehung zuletzt geführt haben, hat diese Anspannung nur noch verstärkt. Ich wollte ihn halten, aber er ist mir entglitten und ich so hab ich ihn verloren, obwohl ich ihn nie besaß. Nur eins gehört weiterhin mir – sein Herz.

Womit wir bei der dritten Frage angelangt wären ... Woran glaube ich?

Diese Antwort ist erstaunlich leicht, obwohl ich dachte, sie würde mir am schwersten fallen. Ich glaube an mich.

Egal, was mir das Schicksal kredenzt: Ich habe all diese Kämpfe gekämpft. Nicht alle habe ich gewonnen. Viele gingen als Niederlage für mich aus und ich wurde verwundet. Aber das hat mich nicht gestört. Weil kämpfen mit sich, leben bedeutet. Es bedeutet, dass ich mir nicht egal bin.

Und es gibt noch einen Menschen, dem ich nicht egal bin. Natürlich bin ich vielen wichtig, neben Tarik und Stean natürlich auch Mika und Pari, und allen meinen sonstigen Freunden. Aber bei Tua ist es mehr als menschlicher Anstand, oder Zugewandtheit. Wir lieben uns so, dass es unser Wesen mitausmacht. Und vielleicht ist das das Einzige, was am Ende zählt. Beziehung hin oder her, diese Liebe ist nicht davon abhängig, welchen Beziehungsstatus wir uns gerade verpassen. Sie wird uns überdauern; daran glaube ich.

Ob ich das vor Mika und Pari wohl so ausdrücken könnte? Oder vor irgendwem? Ich habe Angst vor ihren Reaktionen. Angst, auf Unverständnis zu stoßen. Und gleichzeitig frage ich mich, ob es nicht nur ein weiterer Kampf wäre. Einer, der mir wieder mal beweist, dass ich am Leben bin, und dass mir mein Leben alles andere als gleichgültig ist.

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