Einsames Ende

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18. Februar 1999 – Kosovo.


Es ist klirrend kalt. Meine Zähne klappern. Beim Ausatmen bilden sich kleine weiße Wölkchen vor meinem Mund, die Sekunden später verschwinden und von neuen Wölkchen ersetzt werden. Eines davon formt sich zu einem Herz (vielleicht bilde ich mir das auch nur ein) und ich lächle. Ein instinktives Lächeln einer 16 Jährigen, die für einen kurzen Augenblick den Horror um sich herum vergisst. Mein Lächeln erstirbt, als ich den Blick meiner Mutter auffange.


„Wie kannst du nur lachen, Marigona?", flüstert diese mir zu.


Eine Welle des Schames bricht über mich herein. Augenblicklich senke ich meinen Kopf und wage es nicht, auch nur ein Wort zu sagen. Schweigend trotte ich weiter vor mich hin, während die schweren Tüten mir in die Hände schneiden. Meine Augen schwimmen in Tränen, doch ich blinzle diese weg und beiße die Zähne zusammen. 

Ich bin stark, ich muss stark sein. Aufgeben steht nicht zur Debatte. Nicht jetzt, nicht hier. Nicht mitten im Wald, umgeben vom halben Dorf. Umgeben von Menschen, die nichts mehr haben, bis auf das, was sie mit sich schleppen. Ihr gesamtes Hab und Gut – das, was davon übrig geblieben ist – steckt in Tüten und Koffern. 

Fliehen müssen wir. Vor den Serben. Vor diesen Unmenschen, die sichtlich Spaß daran haben Häuser zu plündern und diese dann anzuzünden. Auch wir wurden nicht verschont, das weiß ich. Noch während wir durch die Felder Richtung Wald gestürmt waren, schossen die Flammen hinter uns in die Höhe.


„Gona, wohin gehen wir?"


Die Frage meines kleinen Bruders bringt mich aus dem Konzept. Er ist erst 5 und versteht nichts.


„Wir gehen zu Onkel, nach Mazedonien", antworte ich. 

„Können wir nochmal zurück? Ich habe meinen Ball vergessen."


Ich schüttle wortlos den Kopf und presse die Lippen aufeinander. Was soll ich denn sagen? Dass sein Ball in Flammen aufgegangen ist und er ihn womöglich nie wieder sehen wird? Dass es Wochen oder sogar Monate dauern wird, bis wir wieder nach Hause kommen? Plötzlich wird mir klar, dass wir gar kein zu Hause mehr haben. Wenn wir wieder zurück sind – wenn wir jemals zurück kehren sollten – wird alles in Schutt und Asche vor uns liegen. Der Gedanke jagt mir eine Gänsehaut über den Körper.

Es herrscht Schweigen unter den 32 Leuten, selbst die Kinder sind ruhig. Man hört nur das Knacken der Zweige unter unseren Füßen. Nach einer Stunde (es können auch zwei oder drei gewesen sein, ich habe jegliches Zeitgefühl verloren) erreichen wir den Waldrand. 

Ich hebe meinen Kopf und suche vergeblich nach der Sonne. Die dicken Wolken am Himmel spiegeln unseren trüben Gemütszustand wider. Es herrscht Krieg, natürlich kann man da keine strahlenden Gesichter erwarten. Aber wir sind doch in Sicherheit? Die Serben können uns nichts mehr tun. Wir sind erfolgreich geflüchtet. Oder etwa nicht? 

Nachdem wir eine breite, unbefahrene Straße überqueren, stehen wir vor den Zugschienen und gönnen uns eine kurze Pause. Ich lege die schweren Tüten ab, reibe meine schmerzenden Hände aneinander. Meine Beine zittern. Ich will mich setzen, doch dann fällt mein Blick auf Mama. 

Die letzten Monate haben tiefe Spuren an ihr hinterlassen. Sie ist schon immer schlank gewesen, aber mittlerweile besteht sie nur noch aus Haut und Knochen. Ihre Wangen sind eingefallen, die Mundwinkel hängen herunter. Das Strahlen ihrer blauen Augen ist verschwunden, und die dunklen Ringe verraten, wie müde sie ist. Sie hält meine kleine Schwester, die gerade mal 8 Monate alt ist, fest an die Brust gedrückt.

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