Findedeine Stimme:
Findyour voice, and when you do, fill the damn silence.
(Zitat aus Grey's Anatomy)
Der Gerichtssaal füllt sich. Immermehr Leute strömen durch die große, hölzerne Tür. Der Lärm ummich herum schwillt an. Die Stimmen der Zuschauer vermischen sich mitdenen in meinem Kopf. Meine Anwältin sitzt neben mir und flüstertmir ins Ohr, aber ich verstehe kein Wort von dem was sich von sichgibt. Ich bin überfordert. Ich will wegrennen. Aber ich kann nicht.Ich darf nicht.
Ich schaue kurz zu meiner Anwältinauf. Sie lächelt mich aufmunternd an und nickt. Ob sie weiß, wiesehr ich gerade ausflippe? Ob überhaupt jemand weiß, dass ich kaumnoch Herr meiner Sinne bin? In meinem Kopf dreht sich alles. Ichstarre auf die Tischplatte vor mir und balle die Hände zu Fäusten.Meine Fingernägel bohren sich schmerzhaft in meine Handflächen.
Und dann spüre ich es, ohne aufzusehen– sie sind da. Sie werden hinein geführt. Alle drei. SchwereSchritte schlürfen über den Holzboden, bevor sie plötzlich wiederverstummen. Da sitzen sie, keine zehn Meter von mir entfernt und siekönnten mir weh tun. Sie könnten mir wieder weh tun. Genauso, wiesie es vor einigen Monaten getan haben. Immer wieder und immerwieder.
Mein Atem geht flach, und ich muss dieZähne zusammenbeißen, um das ängstliche Stöhnen zu unterdrücken,das mir in die Kehle steigt. Ich höre Stühle quietschen, derRichter betritt den Saal. Ohne meinen Blick vom Tisch zu nehmen steheich auf. Meine Knie zittern.
Als wir wieder sitzen und die Anklageverlesen wird, spüre ich ihre Blicke auf mir. Ein Schauer jagt mirden Rücken herunter, meine Nackenhaare sträuben sich. Mir ist übel.Oh Gott. Oh mein Gott! Ich schließe die Augen und blende alles aus.Nach ein paar Sekunden ist da nur noch das Rauschen des Blutes inmeinen Ohren und ich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit legtmeine Anwältin ihre Hand auf meinen Arm und holt mich so aus meinerTrance. Ich reiße die Augen auf und starre sie hilfesuchend an. Sienickt mir zu. Es ist Zeit. Die Angeklagten haben ihre Aussageverweigert. Ich bin an der Reihe, ich muss reden. Ich muss aufstehenund in den Zeugenstand treten. Ich muss alles wiederholen. Wort fürWort, Tat für Tat. Detailliert. Ich versuche mich zu bewegen, aberes geht nicht. Ich kann nicht. Meine Beine gehorchen mir nicht.
„Linda, komm schon. Du schaffst das", flüstert mir meineAnwältin zu.
Ich nehme tief Luft und erhebe mich.Langsam, ganz langsam bringen mich meine Beine in den Zeugenstand.Mir ist schmerzlich bewusst, dass alle Augenpaare im Raum in diesemMoment auf mich gerichtet sind. Ich fühle mich wie ein Tier im Zoo.Es ist kaum auszuhalten.
Kurz darauf passiert etwas, dass michfast dazu bringt laut aufzulachen – ich muss einen Eid ablegen. Alsob ich lügen würde. Als ob es nicht Beweis genug ist, dass ich inden Händen dieser Männer gefunden wurde. Ich schaffe es eineungerührte Miene aufzusetzen und tue, was von mir verlangt wird. Unddann, erst dann, geht es richtig los.
„Wir brauchen Details, Linda. VieleDetails", sagt meine Anwältin und schaut mir in die Augen.
'Denk an mich. Wenn du redest,denk an mich. Du schaffst das. Ich bin da, ich sitze draußen. Ichbin da, das weißt du. Bald ist es vorbei. Wir schaffen das,zusammen.'
Die Worte meines Ehemannes geben mirdie notwendige Kraft. Ich bin bereit.