Ehrenmord (Teil 2)

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Wir warten. Seit Stunden. Von Alev fehlt jede Spur. Um 22 Uhr bricht schließlich die Hölle aus. Mein Cousin kommt ins Haus. Er ist bis auf die Haut durchnässt, da es im Strömen regnet.
„Amca (Onkel), zwei Freunde von mir haben Alev in den Zug steigen sehen. In Begleitung eines Mannes. Er ist blond und trägt eine Brille. Sie denken, dass er Deutscher ist."
Baba flucht laut, schlägt mit der Faust gegen die Wand. Als sein Blick auf mir hängen bleibt, verfinstert sich seine Miene. Er weiß, dass ich gelogen habe. Er weiß es ... Immer mehr Leute kommen in unser Haus. Onkel, Cousins, Verwandte, Bekannte. Alle sind sie hier, weil alle schon von der Schande gehört haben. Die ganze Nacht über wird diskutiert. Nach Mitternacht klingelt unser Haustelefon. Ich gehe ran. Es ist Onkel Ahmet, Oberhaupt der Familie Yilmaz, der in Kilis lebt. Ich reiche Baba den Hörer und renne zur Haustür, gegen die wie verrückt gehämmert wird. Es ist Devin - die Katastrophe ist perfekt!

„Stimmt es?", fragt er mich.

Ich kann nicht reden, schaffe es lediglich leicht zu nicken. Devins Gesichtsausdruck ist vor Wut verzerrt. Verständlich. Seine Verlobte ist mit einem anderen Mann durchgebrannt. Gibt es überhaupt etwas, das den Stolz eines Mannes noch heftiger kränken kann?

„Diese Hure", zischt er.

Seine Worte treffen mich unerwartet und lösen in mir ein Stechen im Brustbereich aus. Am liebsten würde ich ihm meine Faust mitten ins Gesicht rammen und ihn anschreien, was ihm einfällt meine Schwester als Hure zu beleidigen. Doch stattdessen senke ich den Kopf und trete zur Seite. Ich bin erst 15, etwas klein geraten und nicht gerade der Fitnessfreak. Devin dagegen ist zehn Jahre älter als ich und arbeitet als Türsteher in einer der größten Diskotheken Deutschlands. Ich glaube, das sagt alles. Trotzdem ändert das nichts an der Tatsache, dass ich mich wie ein Versager fühle. Zurück im Wohnzimmer setze ich mich wieder neben Baba. Er telefoniert noch immer. Ein mir unangenehmes Schweigen hat sich über den Raum gelegt. Alle Augen sind wie gebannt auf Baba gerichtet. Selbst er spricht nicht, sondern lauscht nur den Worten meines Onkels am anderen Ende der Leitung. Ab und zu nickt er. Ich lehne mich ein wenig zur Seite und bekomme so die letzten Worte meines Onkels zu hören.

„Du weißt, was zu tun ist", sagt er.

Dann ist Schluss. Baba legt das Telefon auf den Tisch. Er starrt eine Weile vor sich hin. Alle warten. Niemand traut sich in dieser Situation das Wort zu ergreifen. Nach einer gefühlten Ewigkeit bricht Baba schließlich das Schweigen.

„Allah belani versin, Alev! (Möge Allah dich bestrafen, Alev!", schreit er.

Er spuckt angewidert auf den Boden.

„Diese Hure hat mir das Gesicht genommen. Was sie getan hat, ist unverzeihlich. Was werden die Leute sagen? Dass ich nicht in der Lage war, ein einziges Mädchen richtig zu erziehen. Das werden sie sagen. Sie werden behaupten, ich hätte versagt. Sie hat einen Fleck in meiner weißen Weste hinterlassen. Die Familienehre ist beschmutzt, aber werde nicht für den Rest meines Lebens mit gesenkten Kopf durch die Stadt laufen. Nein. Ich werde nicht tatenlos mitansehen, wie mein Gesicht verloren geht, so wie es mein nutzloser Schwager getan hat. Diese Ehrenlose wird büßen. Vallahi billahi (Ich schwöre bei Gott), das wird sie!"

Er steht auf und verlässt das Wohnzimmer. Ich werfe einen Blick in die Runde und sehe nichts als geschockte Gesichter. Babas Wutausbruch hat uns allen die Sprache verschlagen. Aus der Küche höre ich Mamas Schluchzen und ich wünsche mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dass der Erdboden sich auftut und mich verschluckt. Baba stürmt nur wenige Minuten später wieder herein. Er knallt eine Waffe auf den Tisch. Jeder im Zimmer zieht die Luft ein. Wir wissen alle, was Baba uns damit sagen will. Die Frage ist nur wer es tun muss. Ich versuche den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, aber es geht nicht. Babas Augen wandern durch das Zimmer und bleiben dann an mir haften.

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