Vergebung
Ich nehme das Handy vom Ohr und halte es mir vor die Augen. Noch Minuten nachdem meine Schwester aufgelegt hat, kann ich meinen Blick nicht von dem mittlerweile schwarzen Display nehmen. Es ist, als würde ich Antworten von meinem Handy erwarten. Antworten auf all die Fragen, die gerade in meinem Kopf herumschwirren und dafür sorgen, dass ich den Atem anhalte.
"Er stirbt, Edona. Babi stirbt."
Babi ... ist er überhaupt noch mein Vater? Er hat mir verboten ihn so zu nennen. Ich habe das Recht dazu verloren, nachdem ich vor knapp zehn Jahren einen Deutschen geheiratet habe. Das waren seine eiskalten Worte gewesen. Ich habe keinen Vater mehr. Ich habe keine Familie mehr. Auch das waren seine Worte gewesen. Ich habe gelernt damit zu leben ... irgendwie.
Ich habe mir eine eigene Familie aufgebaut. Mein liebevoller Mann und meine wundervolle Tochter sind mein Leben. Wir sind eine kleine, glückliche Familie. Ich bin glücklich. Das bin ich wirklich. Aber manchmal, da spukt dieser Geist um meinen Kopf herum und flüstert mir ins Ohr, dass ich noch viel glücklicher wäre, wenn ich meiner Familie damals nicht den Rücken zugekehrt hätte. Stopp - das muss ich korrigieren. Sie haben mir den Rücken zugekehrt, nicht ich ihnen! Er war derjenige, der mich aus dem Haus geworfen hat. Er war derjenige, der allen Familienmitgliedern verboten hat Kontakt zu mir zu haben. Ich wurde verstoßen, vergessen, ignoriert. Meine Existenz wurde ausradiert. So, als wäre ich nie dagewesen. Und jetzt? Jetzt stirbt er - und er will mich sehen.
Ich stoße einen langen Atemzug aus und lege das Handy neben mir auf die Couch. Meine Brust schmerzt. Sie brennt förmlich. Ich schiebe es auf den Sauerstoffmangel, den meine Lunge in den letzten Minuten ertragen musste, aber wem will ich etwas vormachen? Er stirbt. Er stirbt. Er stirbt. Wie eine kaputte Kassette wiederholen sich die Worte in meinem Kopf.
Ich schaue auf die Wanduhr – 17:35 Uhr. Wenn ich jetzt losfahre, dann wäre ich in drei Stunden in Stuttgart. Wenn ... nicht Falls. Denn ich weiß, dass ich gehen werde. Ich weiß es, obwohl ich absolut keine Ahnung habe, was mich erwartet. Was will er von mir? Will er mir noch einmal ins Gesicht klatschen, welch Schande ich der Familie gebracht habe? Will er mir vorwerfen, dass ich schuld daran bin, dass er krank geworden ist? Dass ich, sein ehemaliges Lieblingskind, eine einzige Enttäuschung gewesen bin? Will er mich noch einmal daran erinnern, wie viel Schmerz, Leid und Kummer ich ihnen bereitet habe? Vielleicht will er, dass mich den Rest meines Lebens Schuldgefühle plagen, dass ich nie mehr eine ruhige Nacht habe. Aber was, wenn ...
Stimmen aus dem Flur holen mich aus meinen Gedanken. Kurz darauf stürmt meine Tochter ins Wohnzimmer und wirft sich neben mir auf die Couch. Ihre kleinen Arme schlingen sich um meinen Nacken. Sie drückt mir einen feuchten Kuss auf den Mund, der nach Haselnuss schmeckt.
"Mami, ich hab drei Kugeln Eis bekommen!"
Ich streiche ihr über das Haar und werfe Manuel, der gerade durch die Tür kommt, einen Blick zu.
"Drei Kugeln also, hm?"
"Ich übernehme die volle Verantwortung", antwortet er lachend und hebt abwehrend die Hände. "Aber mal im Ernst, wer kann diesen Grübchen schon einen Wunsch ausschlagen."
Er kneift Aleyna in die Wangen und beugt sich dann zu mir herüber. Sein Lächeln schwindet, bevor er mich auf die Stirn küsst und mir eine Haarsträhne hinters Ohr streicht.
"Alles okay?", fragt er.
Ein Blick von mir reicht. Manuel nickt nur. Er weiß, dass etwas nicht stimmt und dass wir das nicht vor Aleyna besprechen können. Nach fast zehn Jahren Ehe sind wir an einen Punkt angelangt, in dem wir uns wortlos verstehen.