Ehrenmord (Teil 1)

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„Es tut mir leid, Abla (Schwester). Es tut mir so leid, aber Baba hat gesagt ich muss es tun."

Meine Schwester rührt sich nicht. Sie scheint ihr Schicksal akzeptiert zu haben. Ich glaube sie murmelt ein Gebet, bevor sie ihren Kopf hebt und mich aus ihren großen, braunen Rehaugen ansieht. Meine Hand beginnt zu zittern. Ich wende kurz den Blick ab. Nicht in die Augen schauen, hat Baba gesagt, nicht in die Augen schauen. Einfach abdrücken. Die Familienehre wiederherstellen. Ehre, Ehre, Ehre. Das Wort rast durch meinen Kopf. Und dann lege ich den Finger auf den Abzug und drücke ab ...

Drei Tage zuvor.

„Kerem, komm essen!" ruft Mama aus der Küche.

Ich klappe meinen Laptop zu, springe aus dem Stuhl und folge dem Geruch von Mamas leckerem Pilav. Kurz darauf sitzen wir alle gemeinsam am Tisch und essen zu Abend. Ich genieße die ersten paar Minuten Ruhe, weil ich weiß, dass Baba gleich loslegen wird, über Moral und Ehre zu reden. Diese abendlichen Predigten, waren – seit der Schande, wie sie das Durchbrennen meiner Cousine mit einem anderen Landsmann nannten –, zur Routine geworden. Baba verfluchte meinen Onkel, der zu feige war seine, ich zitiere: „Ehrenlose Hure, die den Familiennamen in den Dreck gezogen hat" zu bestrafen. Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass mit Bestrafung der Tod gemeint ist.

Wie auch immer. Heute bleibt es komischerweise, bis auf das Klappern von Besteck und Geschirr still. Das Schweigen zieht sich über das gesamte Abendessen. Ich glaube sogar, dass Baba kein einziges Mal den Kopf hebt. Ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus. Diese Stille kann nichts Gutes bedeuten das spüre ich. Alevs und mein Blick treffen sich. „Ne oldu? (Was ist passiert?)", formt meine große Schwester tonlos mit den Lippen. Ich zucke die Schultern, weil ich keine Ahnung habe was passiert sein könnte. Kommt es mir nur so vor oder ist Alev heute besonders blass? Nachdem alle fertig gegessen haben, räumen Mama und Alev den Tisch ab. Baba steht auf und geht ins Wohnzimmer. Tayfun und ich folgen ihm, während die Frauen sich um den Abwasch kümmern. Baba hat noch immer kein Wort gesagt. Er schaut teilnahmslos in den Fernseher. Ich merke, dass ihn etwas bedrückt, weiß aber nicht was ich sagen könnte, um seine Stimmung zu heben.

„Baba, Kerem Abi (Bruder) hat jetzt eine Freundin. Eine Deutsche", sagt Tayfun plötzlich.

Ich verdrehe die Augen und werfe dem Winzling einen bösen Blick zu. Er ist zwar erst 8, hat aber eine ziemlich große Klappe, die manchmal ganz schön nervig sein kann.

„Vay, mein Sohn wird langsam zu einem Mann", sagt Baba.

Er klopft mir auf die Schulter und zugegeben seine Anerkennung macht mich stolz. Fast erwarte ich, dass er mir Ratschläge gibt, so wie er es bei meinem großen Bruder getan hat. „Bloß nicht schwängern" lautet die Devise. Mein großer Bruder, Mert, hatte mehr als eine Freundin bevor Baba ihm eine passende Ehefrau aus unserem Heimatdorf in Kilis gefunden hat. Ich weiß, dass auch ich eine von dort heiraten werden muss. So will es die Tradition. Eine Tradition, die die Familie Yilmaz nicht im Traum zu brechen vermag. An Babas Verhalten ändert sich nach wie vor nichts. Er wendet sich wieder dem Fernseher zu. Seine Miene verhärtet sich. Tayfun spielt an seinem Handy, während ich auf Facebook scrolle. Als ich aufstehe, um in mein Zimmer zu gehen, hebt Baba eine Hand.

„Setz dich", verlangt er ruhig.

Ich tue was er sagt und warte. Eine geschlagene Minute vergeht bis er erneut das Wort ergreift.

„Ich werde jetzt Alev ins Zimmer rufen. Behalte ihr Gesicht im Auge, verstanden?" „Aber Baba, was -" „Hast du verstanden?", fragt er mit Nachdruck.

Ich nicke. Mein Körper verkrampft sich. Baba ruft nach Alev, die keine 10 Sekunden später ins Zimmer gestürmt kommt. Meine Schwester ist schön. Nein, sie ist mehr als schön. Ihr rabenschwarzes Haar und die strahlend braunen Augen passen perfekt zu ihrem leicht dunklen Hautteint. Meine Schwester ist eine Schönheit, dessen sind sich viele bewusst.

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