Kapitel 6

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„Denkst du, du schaffst das?", fragt Vittorio und schaut auf meinen bebenden Körper. „Ich schaffe das", flüstere ich und steige aus dem Wagen meines kleinen Bruders aus.

Menschenmassen strömen an mir vorbei, alle in Schwarz gekleidet und mit Tränen im Gesicht. Meine Atmung wird wieder schneller und schwarze Punkte bilden sich vor meinen Augen. „Ich bin da", sagt Vittorio und hakt sich in meinen Arm ein. „Danke."

Die Kirche ist voll. Gefühlt jeder Mensch der Welt sitzt oder steht hier. „Ich dachte du hättest eine kleinere Beerdigung geplant?", frage ich meinen Bruder und schaue in sein entsetztes Gesicht. „Ich habe nur Cocos Assistentin Bescheid gegeben", sagt er und schaut sich um.

Jeder Mensch ist da. Cocos Familie - ihre Mutter Lourdes und ihr Bruder Milosh sitzen ganz vorne. Neben den beiden sitzt Aven und Cocos Assistentin Mia. Alle mit Tränen im Gesicht.

„Das war ein ganz schöner Schlag für alle", sagt Vittorio und zieht mich am Arm zu einer Bank in der ersten Reihe. „Keiner wusste über irgendetwas Bescheid. Du hast einen guten Job gemacht, die Prinzessin abzuschirmen", sagt er und ich nicke. „Ich will sie nicht teilen", sage ich. „Matteo. Coco war nicht nur deine Frau, deine Freundin, deine Seelenverwandte. Sie war so vieles, für jeden hier im Raum", sagt er. „Gib denen die Chance Abschied von ihr zunehmen."
Mit flacher Atmung nicke ich und schaue nach vorne. Ich weiß, aber es tut so weh, sie zu teilen.

„Ich kann das nicht", schnaufe ich und stehe blitzschnell von der Bank auf. „Komm mir nicht hinterher", kommt es gerade so über meine Lippen, bis ich aus der Kirche renne und die große Eichentür hinter mir zuwerfe. Erschöpft setze ich mich auf eine Bank - weit entfernt von allem. Ich kann das alles nicht mehr.

„Geht es Ihnen gut?", fragt eine ältere männliche Stimme und ich schrecke auf. „Entschuldigen Sie - ich wollte Sie nicht erschrecken", sagt er und geht ein paar Schritte zurück. „Alles gut", sage ich und schaue auf die Gruft für Coco.
Vittorio hat sein Versprechen gehalten. Er hat für sie eine ganze Gruft gebaut. Es ist eine schöne Gruft, aus weißem Marmor und Gold. Blumen zieren das kleine Haus und Pflanzen springen aus der Erde.

„Haben Sie Coco gekannt?", fragt der Mann und setzt sich neben mich. „Ja, habe ich", antworte ich. „Und sie?", frage ich und schaue weiterhin nach vorne. „Kaum. Ich kenne sie nur aus ihrer Kindheit", sagt er und ich schaue ihn genauer an. „Sie sind ihr Vater?", frage ich und der Mann nickt. „Ja, der bin ich", sagt er und sitzt angespannt neben mir.

„Coco hat mir nie von ihnen erzählt", sage ich und schaue in seine grauen Augen. „Wie könnte sie auch. Sie hat mich kaum gekannt. Als sie noch sehr klein war, habe ich sie und ihre Mutter für eine andere verlassen", sagt er und schaut beschämt auf den Boden. „Zurückblickend war es die dümmste Entscheidung meines Lebens, aber ich war jung und hatte nichts gescheites im Kopf", erzählt er.

„Glauben Sie mir, Coco hat es sehr gut ohne sie geschafft", grinse ich und Wut kommt in mir hoch. Wie konnte er Coco nur allein lassen?! Obwohl - ich bin auch nicht besser...

„Das habe ich gesehen. Wissen sie, ich habe jeden einzelnen Artikel aus den Zeitschriften über meine Tochter aufgehoben. Sie ist zu einer erfolgreichen Frau geworden, wessen Leben nicht so hätte enden sollen. Kein Kind sollte vor ihrem Vater sterben. Ich hätte mich nur noch gerne bei ihr entschuldigt", sagt er und hebt seinen Blick vom Boden und schaut mit zitternden Lippen auf Cocos Gruft. „Ich auch", flüstere ich.

„Ich bin mir sicher, sie wusste es. Sie müssen sich nicht schuldig fühlen", sagt er und steht auf.
Bei seinem Gewicht bewegt sich die Bank mit und ich stelle mich automatisch hin.
„Sie war alles, was ich hatte", flüstere ich zu mir selbst. „Sie standen Coco wohl sehr nah", sagt er und schaut auf meinen Ring an meiner Hand.

Zögernd schaue ich in seine Augen, die mich schon anstarren. „Ich freue mich, dass sie so einen tollen Mann wie sie hatten", sagt er. „Ich danke Ihnen", sagt er und dreht sich um.
Mit schnellen Schritten bewegt er sich von mir weg und auf die Gruft zu. Die einzelne rote Rose in seiner Hand legt er auf die Steine und kniet sich nieder. Eine Träne läuft seine Wange herunter.
Der Mann steht wieder auf und dreht sich, ohne mich anzuschauen in die andere Richtung um und läuft aus dem eisernen Tor. Es gibt keinen Grund mir zu danken, wegen mir ist sie tot.

„Sie kenne ich doch", sagt eine weibliche Stimme und ich drehe mich um. Nachdem Gespräch mit Cocos Vater bin ich wieder zurück in die Kirche gegangen.

Zögernd schaue ich in das Gesicht von Cocos Assistentin - Mia. Ihre Haare stehen von allen Seiten ab und ihr Anzug ist in Falten gelegt. „Mein herzliches Beileid", sagt sie und legt ihre Hand auf meine Schulter, die ich jedoch sofort wieder abwimmle. „Entschuldigen Sie", sagt sie und ich bin kurz davor mich wieder umzudrehen.
„Wissen sie, immer wenn ich an Coco denke - denke ich an den Tag, an dem ich sie beide im Brautladen gesehen habe. Ihr Lächeln formt sich vor meinem Gesicht, als Coco sie angeschaut hat. Und Ihr trauriger Blick, als sie gegangen sind", erzählt sie. Ich nicke. „Es tut mir sehr leid", sagt sie erneut und ich nicke erneut.

Cocos Freundin - Aven, schaut mich kurzzeitig an und zieht dabei ihre Augenbrauen zusammen, bevor sie wütend ihren Kopf schüttelt und nach vorne läuft. Ihre Absätze ziehen sich über den kalten Boden, bevor sie vor Coco zum Stehen kommt und ihre Lippen auf sie legt.
Mein Blick schweift zu Cocos Familie. Ihre Mutter sieht entsetzt aus, ihr Bruder hat starke Augenringe und kein Ton kommt aus seinem Mund. Wie auch jeder andere, schaut er auf den Boden.
Unsere Blicke treffen sich und er zieht seine Augenbrauen zusammen. Er ist groß geworden.

„Wie geht es dir?", fragt mich Vittorio und stellt sich neben mich. „Scheiße", antworte ich ehrlich und mein Bruder nickt. „Komm", sagt er und zieht mich an meinem Arm durch eine kleine Tür nach draußen, auf den Friedhof. „Wollen wir hier stehenbleiben?", fragt er und ich nicke. „Wenn alle weg sind, kannst du dann in Ruhe zur ihr", sagt er und zieht sich seine Jacke an.

Nach Stunden sind die letzten gegangen. Aven und Milosh waren die Letzten. Lourdes - Cocos Mutter ist schon früher gegangen. Schreiend und hysterisch. Cocos Gruft ist mit Blumen übersäht. Die Steine darunter sind kaum noch zu erkennen. Alles ist voller Blumen und Briefen. Vittorio greift in seine Jackentasche und zieht einen Schlüssel aus dieser.

„Du kannst, wann immer du willst zu ihr", sagt er und drückt mir den goldenen Schlüssel in die Hand. Er nickt mir zu und geht ein paar Schritte nach hinten. Zögernd stecke in den Schlüssel in die Tür und öffne die schwere Tür. Das Sonnenlicht bricht hindurch und erhellt die Gruft. Auf der rechten Seite liegt Cocos Grab - ihr Sarg ist komplett aus Stein und hat ihren Körper nachgebildet.
„Sie sieht wunderschön aus", flüstere ich und steige über die Stufen. Ihr Herz ist aus Gold, genau wie der Ring an ihrer Hand. Neben ihr stehen Blumen und auf der linken Seite - mein Grab.

NUDES? IIIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt