Elina kratzte den Nagellack von ihren Fingern.
Das tat sie oft, wenn sie nervös war.
Und wann hatte man schon einmal mehr Grund nervös zu sein, als wenn man von einem Haufen fies aussehender Typen durch das Land gejagt wurde und sich dann in einer alten Hütte mit irgendeinem Typen, den man nicht kannte, versteckte.
Wieder einmal schenkte sie dem fremden Jungen einen Blick aus ihrem Augenwinkel heraus.
Teenager waren gruselig. Es schien, als hätte keiner mehr einen Grund, um zu überleben, aber alle wussten, wie es funktionierte. Sei es aus Videospielen, Filmen, Büchern oder von irgendwelchen Menschen, die sich manchmal als Eltern bezeichneten.
Elina war auch ein Teenager.
Aber trotzdem. Es gab nichts furchteinflößenderes als Gleichaltrige, die auch nur ansatzweise so ähnlich tickten, wie sie und ihre Freunde. Oder noch schlimmer: die, die sich so klischeehaft verhielten, dass es fast schon peinlich war.
Der dunkelrote Nagellack, der einst noch ihren Zeigefinger bedeckte, war verschwunden und die natürliche Farbe ihres Nagels starrte ihr entgegen, als sie endlich auf ihre Hände hinabsah. Sie sah aus, als hätte sie gerade erst bemerkt, was sie tat.
Doch dann war der Moment vorbei und der verwirrte Blick verschwunden. Stattdessen erfüllte nun die leise Stimme des Jungen den Raum:
"Wir müssen gehen. Weg von hier. Ich kenne ein besseres Versteck."
Elinas Blick ruhte auf der schlanken Figur des Jungen und für einige Sekunden bohrten sich warme, braune Augen in stürmisch graue.
"Und woher kennst du auf einmal - nach eineinhalb Stunden - ein besseres Versteck?", sie wusste, dass sie in dieser Situation nicht gerade mit Verbesserungsvorschlägen glänzte und deshalb vielleicht lieber die Klappe halten sollte, aber trotzdem verschränkte die Braunhaarige die Arme vor der Brust, "generell wäre es doch vielleicht ein Anfang, wenn du mir langsam deinen Namen verraten könntest. Ich bin mir sicher, dann würden wir eine Märchenhafte Verbindung zwischen uns aufbauen!"
Mit jedem Satz strömte mehr Sarkasmus, wie ein gebrochener Damm in ihre Stimme und der Junge glaubte, jede Sekunde davon mitgerissen zu werden. In die Tiefe. Das Nichts.
In die Verzweiflung, die Elina schon seit Tagen kennen musste.
Seine emotionslosen Augen musterten das Mädchen so lange, bis sich ein Schauer in Wellen ihren Rücken hinunterbewegte. Kalte, graue Hände, die aus den Tiefen seiner Iris nach ihr griffen, betasteten ihre Seele.
"Darian", die Emotionen seiner Stimme glichen, denen seiner Augen. Null.
"Was?", noch während Elina ihrer Verwirrtheit kundtat, sickerte der Sinn des Wortes zu ihr durch, "Achso! Ich bin Elina."
Für einen Moment überlegte sie, sich von der splitternden Holzbox zu erheben und ihm die Hand zu reichen, aber das erschien ihr übertrieben.
"Ich weiß." Die braunen Augen glaubten einen Blick auf seinen nach oben zuckenden Mundwinkel zu erhaschen. Dann war der Moment vorbei.
War ja klar. Hätte ich mir denken können.
Elinas Stirn verknotete sich zu kleinen Falten. Langsam ging Darian ihr auf die Nerven. Doch sie sagte nichts. Der Schwarzhaarige könnte ihre Rettung sein. Ihre absolut letzte Rettung.
Im Laufe der letzten Tage hatte die Braunhaarige den Optimismus aufgegeben. Ihr war auf die harte Weise klar geworden, dass sie nicht zimperlich sein konnte. Im Gegensatz zu ihren Großeltern führte sie ein gutes Leben. Sie musste nicht mehr überleben. Nur noch existieren. Und wenn andere noch die Kunst des Lebens kannten, hatte sie wohl keine andere Wahl, als es von ihnen zu lernen.
Sonst würden die Männer in den teuren Schuhen und die Frauen in den maßgeschneiderten Anzügen sie holen. Und was sie dann erwarten würde, konnte Elina nur erahnen, ob sie das auch wollte, war eine andere Geschichte.
"Kommst du jetzt, oder willst du hierbleiben, bis du von dem Dreck Asthma bekommst?", seine Stimme klang ungehalten, als er sie aus ihren Gedanken zerrte, "ich bin ganz ehrlich, eigentlich ist es mir egal - also, ob du hier bleibst oder nicht - nicht, ob du Asthma bekommst. Wenn sie dich schnappen, kann ich einfach hinter der nächsten Ecke stehen und lachen- warte!
Eigentlich wäre es mir auch egal, wenn du Asthma bekommen würdest."
Darian hatte sich zu Tür gedreht und dem Anschein nach sprach er schon lange nicht mehr mit Elina sondern führte seinen eigenen kleinen Monolog mit den Geistern in seinem Kopf.
Dabei hatte er sich allerdings schon lange in seinen eigenen Worten verfahren. Wie in einem alten Horrorfilm. Allein mit den springenden Gedanken und den Geistern.
Sie lachten zusammen mit Elina über ihn.
"Wenn es dir letztendlich egal ist, wieso hast du mir dann überhaupt geholfen?", das schlanke Mädchen war alt genug um zu wissen, dass niemand etwas einfach nur so tat. In dieser Welt hatte jede Handlung einen Grund, von der nur der Handelnde selbst profitierte.
Und die Naivität, um zu glauben, dass dieser Profit etwas Gutes war, hatte sie auf der langen Reise bis zu dieser staubigen Holzbox, auf der sie nun saß, verloren.
Der Junge schnaubte entnervt und wie auf Kommando zuckten Elinas Mundwinkel:
"Jetzt komm schon! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!"
"Gib einfach zu, dass meine Logik nicht zu übertreffen ist!"
Für einige Sekunden schwebten ihre braunen Haare, als sie von der Box sprang.
Und ganz kurz - nur einen kleinen Moment - sah es so aus, als wäre ihre Welt noch in Ordnung.
Darian brauchte diesen Moment, bis er sich wieder gefangen hatte und ein genervtes Zischen hören lassen konnte. Danach drehte er komplett ab und öffnete die Türe vorsichtig, ohne Elina einen weiteren Blick zu schenken.
Er wusste, dass sie hinter ihm kommen würde.
Graue Augen huschten aufmerksam wie ein wildes Tier von links nach rechts und zurück. Dann stoß er die Tür weiter auf.
Die Scharniere stöhnten und knirschten wie alte Leute, die nie die Chance auf ruhige letzte Sekunden hatten und die Braunhaarige verzog erneut die Stirn zu Falten.
Mit schnellem Schritt legte sie die letzten paar Meter bis zu ihrem Retter zurück und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Er zuckte zusammen und Elina konnte spüren, wie sich Muskeln unter ihrer Hand und unter dem dicken Pullover anspannten. Sie nahm ihre Hand wieder weg.
Darian spürte, wie sich die Rehaugen in seinen Hinterkopf bohrten und seine Kiefermuskeln spannten sich an.
Das Gefühl verschwand wieder.
Jetzt war ihre Stimme neben ihm:
"Also komm. Bevor du hier noch Asthma bekommst. Zeig mir dein besseres Versteck."
"Jokes on you habe ich schon Asthma."
Mit diesen Worten trat er hinaus in die tief stehende Sonne. Ein schwarzer, verschwommener Umriss vor einem Meer aus Gold, das sich in Elinas Augen spiegelte.
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Vollmondaugen
RomanceVollmondaugen substantiv neutrum//plural ° Augen mit dem Aussehen des Vollmondes ° Augen, die das gleiche Gefühl geben, wie beim Betrachten des Vollmonds - Wieder huschten die grauen Mondaugen ihr Gesicht hoch und runter. Auf. Ab. Auf...