Es hielt nicht lange an.
Das Serotonin. Die Relativität. Das... Glück?
Vielleicht konnte Darian im Nebenzimmer hören, wie sich das Mädchen im Schlaf auf der alten Matratze herumwarf. Vielleicht nicht.
Und als sie dann aufwachte - ganz klamm vom Schweiß und mit den Erinnerungen an ein fremdes Leben, vielleicht ein what if, in ihrem Inneren - dauerte es, bis ihr Geist wieder fokussierte. Wie eine alte Kamera im Porträt-Modus.
Es wurde erst schlimmer, bevor es besser wurde.
Das klamme Gefühl, das Elina wie in einer festen Umarmung hielt, fühlte sich seltsam an. Widerlich.
Sie wollte es loswerden. Duschen. Irgendwas.
Doch wer ging schon mitten in der Nacht in irgendeinem Fremden Haus duschen?
Niemand. Nicht, wenn man niemanden wecken wollte.
Langsam schob sie die Füße über den Rand des unbekannten Bettes und halb erwartete sie sogar, dass irgendwas den nackten Fuß packen und nach unten ziehen würde. Allein der Gedanke ließ sie die müden Entscheidungen noch einmal überdenken.
Doch dann stand ihr rechter Fuß auf dem kalten Holz des alten Bodens. Es wirkte rau, wie von tausend kleinen Sandkörnern geschliffen und gleichzeitig weich, als wären schon seit Jahrhunderten immer die gleichen Füße darüber geschlurft.
Doch beides war unmöglich. Das Meer war viel zu weit weg, als das der Wind nach einem langen Tag die kleinen leichten und ach so typischen Körner hineintragen könnte und das Haus war zu jung um die Jahrhunderte von Glück und Schrecken vorbei wandern zu sehen.
Jetzt standen beide Füße auf den Riffeln des Holzes und noch immer hatte nichts Elinas Füße gepackt und sie in das schwarze Verderben ihres eigenen Unterbewusstseins gezogen.
Das Mädchen stand auf und der Boden knarzte gequält unter der zusätzlichen Belastung.
Für einige Sekunden wagte sie fast nicht zu atmen. Was, wenn sie doch den Jungen im Nebenzimmer wecken würde?
Er verdiente seinen Schlaf!
Dann ließen sich die inzwischen kalten Füße endlich wieder bewegen.
Langsam und fast, ohne die Füße überhaupt vom Boden zu heben kroch Elina weiter bis zur Tür.
Das leise Knarzen der Tür klang in dem stillen Haus so viel lauter als sonst und das Mädchen zog eine Grimasse, während das Geräusch immer weiter in den Räumen wieder zu hallen schien. Sie glaubte nicht, dass es möglich war, in dieses Haus einzubrechen...
Die Türe blieb offen stehen. Elina hatte wirklich nicht das Bedürfnis diese nahezu klagenden Laute zu dieser gottlosen Stunde erneut zu hören. Genau so wenig, wie sie das Bedürfnis hatte, die Schuldgefühle auf sich zu laden, weil sie den Jungen geweckt hatte.
Der Flur lag stockdunkel vor ihr.
Es war wirklich unglaublich, wie wenig Licht die Bäume, die sie umgaben, bis nach unten durchließen. Auf jeden Fall nicht genug, um einen weiteren Meter zu sehen.
Das Kopfkino von irgendwelchen Spinnen, Käfern und sonst welchen unbekannten Tieren des Waldes war unglaublich, als Elina mit der Hand über die Creme-weiße Tapete fuhr, um sich zu orientieren.
Die Türe zum Badezimmer müsste auf dieser Seite liegen...
Prompt stieß ihr Zeigefinger gegen den Türrahmen und das Mädchen zog leise die Luft ein. Das fühlte sich an, als hätte sich ihr Fingernagel ein paar Millimeter weiter nach innen verschoben.
...Aber eigentlich wollte sie nicht ins Badezimmer.
Sie brauchte keinen Beweis dafür, dass sie wie ein Zombie aussah. Mit Haaren, die dem Anschein nach seit Tagen keine Bürste mehr gesehen hatten und Augen, die weder Schlaf noch Frieden kannten.
Vielleicht kein Zombie. Eher der traumatisierte Veteran eines inneren Krieges.
Elina übersprang die ungefähr 90 Zentimeter der Türe und glitt weiter an der Wand entlang. In ein paar Metern sollte der Flur zu Ende sein und nahtlos in das Wohnzimmer übergehen...
Zumindest dachte sie das.
In der Dunkelheit der Räume und der Totenstille des ganzen Hauses sangen und tanzten ihre Gedanken Beschwörungen ihrer Albträume. Immer neue Gedankenblitze vom Horror des Lebens durchfluteten sie und schienen die Zeit anzuhalten.
Doch sie waren zu schwach. Selbst wenn sie die Zeit anhalten wollten, gelang es nicht länger als ein paar Sekunden.
Elina war mehr als ihre Albträume.
Und dort, 20 Zentimeter vor ihr, lag das Wohnzimmer.
Jetzt musste sie nur weiter bis zur Küche...
...War die Küche links oder rechts von ihr?
Links.
Sie ließ von der Wand ab und trat etwas weiter in den Raum hinein, bevor sie letztendlich wirklich ihrer Entscheidung folgte und nach links abbog.
Lagen auf den letzten paar Metern irgendwelche Sachen? Möbelstücke? Die Braunhaarige hatte keine Ahnung.
Drei Schritte. Weiter traute sie sich nicht, bevor sie wieder die Fingerspitzen an die Wand lehnte. War die Küche wirklich links und wenn ja, wie weit wollte sie denn verdammt nochmal noch entfernt liegen?
Ihr übermüdetes Hirn machte den ganzen Stress nicht mit.
Aber welchen Stress eigentlich? Sie suchte doch nur nach der Küche...
Wann hatte sie damit begonnen, aus jeder Maus gleich einen Elefanten zu machen?
Wann würde sie damit aufhören?
Elina war so frustriert und so müde und so verwirrt und so all die anderen Emotionen, die in ihrem Inneren wirbelten wie zerstörte Möbelstücke in einem Tornado.
Und sie saß daneben. Der Sturm zog an ihr, aber irgendwie hatte sie keine Angst, ebenfalls in den Wirbel gesogen zu werden. Es tat viel mehr weh, ihr ganzes Leben in dem Wirbel zu Bruch gehen zu sehen.
Sie rieb sich mit den Händen übers Gesicht.
Der Wirbelsturm schien sich immer schneller und schneller zu drehen und alles wurde immer immer lauter.
Da rauschte etwas. Immer immer lauter.
Sie konnte sich selbst nicht mehr hören.
Ihre Hände drückten auf ihre Ohren, doch alles wurde nur noch lauter.
Immer immer lauter und lauter und lauter undlauterundlauterundlauterundlauter
Ihr Herz fühlte sich an, als würde es ihr gleich aus der Kehle springen. Ihr wurde schlecht.
Sie stolperte über nichts und drückte sich rückwärts gegen die Wand. Eine Hand wanderte über ihren Mund die andere auf ihre Brust.
Alles drehte sich und schrie und wurde immer lauter und lauter.
Elina drehte sich. Elina war der Tornado.
Und alles drohte überzulaufen. Alles wäre kaputt.
Das Mädchen rutschte in der Dunkelheit an der Wand hinunter. Wo war oben und wo war unten?
Wo war sie?
Dann war Elina nicht mehr in ihrem Körper.
Sie schwebte in dem endlosen, schwarzen Nichts über ihr.
Vielleicht hatte sie jetzt ihr Herz ausgekotzt.
Vielleicht war sie jetzt nichts.
Sie sah nichts, fühlte nichts, roch nichts, hörte nichts.
War sie tot oder war sie lebendig?
Existierte sie oder war sie nur eine Fata Morgana?
Es wurde schlimmer, bevor es besser-
Nein es wurde immer besser, bevor es schlimmer wurde.
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Vollmondaugen
RomanceVollmondaugen substantiv neutrum//plural ° Augen mit dem Aussehen des Vollmondes ° Augen, die das gleiche Gefühl geben, wie beim Betrachten des Vollmonds - Wieder huschten die grauen Mondaugen ihr Gesicht hoch und runter. Auf. Ab. Auf...